Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
Vom Netzwerk:
»Judendiktatur«. 113 Daneben standen drastische Schilderungen des angeblich verhängnisvollen Einflusses der amerikanischen Juden. Bevorzugte Themen waren dabei die Verhältnisse im »jüdischen« New York 114 sowie die angebliche zentrale Rolle von Juden in einer als skrupellos apostrophierten Sensationspresse, 115 in Korruption, 116 Kriminalität 117 und bei der – Profit versprechenden – Kriegsvorbereitung. 118
    Die Propaganda ging so weit, die von ihr aufgeworfene und unter verschiedenen Aspekten grell beleuchtete amerikanische »Judenfrage« zu einem wesentlichen Kriterium für die weitere Entwicklung der Beziehungen zu den USA zu machen. In einem Leitartikel im Angriff vom 22. Januar betonte Goebbels unter der Überschrift »Was will eigentlich Amerika?«, das »Judentum klatscht natürlich immer Applaus, wenn es gegen Deutschland geht«. Es erhebe sich nun die Frage, »ob das amerikanische Volk sich dem Judentum zuliebe in eine unfruchtbare Feindschaft zum Deutschen Reich und vor allem zum deutschen Volk hineinhetzen lassen soll und darf.«
    Am 25. Februar veröffentlichte Goebbels unter der historisch beziehungsreichen Überschrift »Krieg in Sicht« 119 einen weiteren antisemitischen und antiamerikanischen Kommentar im Völkischen Beobachter . Darin wehrte er sich gegen die angebliche »internationale Hetze« gegen Deutschland und das »Kriegsgeschrei«: »Die Hintermänner dieser Hetze sind uns wohl bekannt. Sie sind in den Kreisen des internationalen Judentums, der internationalen Freimaurerei und des internationalen Marxismus zu suchen.«
    Das hinter dieser Gedankenführung stehende Kalkül ist offensichtlich: Verschlechterten sich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, so war der Beweis für den unheilvollen Einfluss der amerikanischen Juden erbracht; sollten sich die Beziehungen jedoch verbessern, so hatte man im amerikanischen Volk einen weiteren Verbündeten im Kampf gegen das »Judentum« gewonnen. Die Logik des radikalen Antisemitismus musste so oder so aufgehen.

1939: Indifferenz und Desinteresse?
    Im Gegensatz zu den offiziellen Stimmungsberichten unmittelbar nach dem Pogrom kommt in den Berichten des Jahres 1939 die Einstellung der Bevölkerung zur »Judenfrage« kaum vor. 120 Auch in den Sopade-Berichten dominieren 1939 rückschauende Berichte zum Novemberpogrom, während man über die aktuelle Lage im Reichsgebiet wenig erfährt. 121 Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen besteht darin, dass die Bevölkerung nach der endgültigen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft seit Ende 1938 diesen nur noch Indifferenz und Desinteresse entgegengebracht habe. Die Juden seien mehr und mehr aus ihrem Gesichtskreis verschwunden. Dieser Prozess der »Depersonalisierung« des »Judenproblems«, der schwindenden konkreten Erfahrung im Umgang mit den Opfern der Verfolgung, habe sich, so die gängige Erklärung, mit einem Gefühl der Ohnmacht und einer Haltung des bewussten Wegschauens vermischt. 122
    Diese These scheint mir jedoch wenig geeignet, um den aus den Stimmungsberichten hervorgehenden rapiden Rückgang des Interesses zu erklären. Sind die gleichen Menschen, die im November 1938 noch hochgradig erregt auf die Gewaltakte reagierten, wenige Monate später in Indifferenz und Desinteresse versunken, obwohl die Propaganda dem Thema bis zum Februar 1939 einen zentralen Stellenwert einräumte? Ist das Schweigen der Berichte tatsächlich gleichbedeutend mit schweigendem Desinteresse als kollektiver Befindlichkeit der damaligen deutschen Bevölkerung?
    Meines Erachtens lässt sich der auffällige Mangel an verzeichneten Reaktionen im Hinblick auf die »Judenfrage« weitaus einfacher und plausibler mit dem Zweck der Berichte erklären: Diese zielten, wie erwähnt, nicht in erster Linie darauf, die »wirkliche« Volkstimmung wiederzugeben, sondern waren vor allem ein Resonanzboden der nationalsozialistischen »Judenpolitik«.
    In den Stimmungsberichten des Regimes zeigt sich 1939 das gleiche Muster wie 1935 nach Erlass der Nürnberger Gesetze: Auf die Kritik der Bevölkerung an den Gewaltmaßnahmen und vor allem an den Zerstörungen folgte nun eine Phase der Ruhe, sobald die noch offenen Fragen endgültig gesetzlich geregelt wurden. Die deutsche »Judenfrage« war aus der Sicht des Regimes weitgehend erledigt – auch die Propaganda verschob den Fokus nun auf die internationale »Judenfrage«. Jetzt ging es vor allem um die Organisierung der Auswanderung der noch in Deutschland

Weitere Kostenlose Bücher