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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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herausgestellt und kommentiert wurde. 101
    Die Vorstellung, die Auseinandersetzung mit dem »Judentum« verlagere sich auf eine internationale Ebene, betonte zu diesem Zeitpunkt auch einer der rabiatesten Antisemiten, Julius Streicher. In einem Interview mit dem Angriff führte er Ende Januar 1939 aus: »Die Judenfrage hat sich in den letzten Jahren entscheidend verändert. Wir waren bisher wie in einer belagerten Festung, aus der wir den Feind herausdrängen mussten. Jetzt steht er an den Grenzen des Reiches. Wir müssen der Welt klarmachen, dass Deutschland niemals Sicherheit genießt, solange seine Grenzen von Juden besetzt sind. Denn die Juden sind rachsüchtiger als wir. Sie werden, wenn sie jemals wieder hochkommen sollten, sich nicht damit begnügen, uns in Konzentrationslager zu schicken.« 102 »Die Judenfrage«, drohte Streicher in einer ebenfalls Ende Januar gehaltenen Rede im Berliner Sportpalast, sei »eine Frage des ganzen Erdballes«. 103
    Im Februar 1939 lief die im November 1938 gestartete konzertierte antijüdische Propagandakampagne in der Presse endgültig aus; die Parteiblätter fuhren ihre antisemitische Propaganda etwa auf den Stand von 1937 zurück. 104 Zwar gab es auch in den folgenden Monaten immer wieder gezielte antisemitische Presseanweisungen, 105 aber eine dominierende Stellung nahm das Thema in der Propaganda nicht mehr ein. Im Gegenteil: Die einschlägigen Richtlinien liefen darauf hinaus, die »Palästina-Frage« beispielsweise »vorsichtig« zu behandeln, die Berichterstattung zu bestimmten Themen einzuschränken und Gerüchten entgegenzutreten. 106
    Ein Grund dafür ist in einem Dilemma der Propaganda nach dem Novemberpogrom zu suchen. Nach der völligen Ausschaltung der Juden aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben ließ sich die total entrechtete, expropriierte und vor allem mit Auswanderungsvorbereitungen beschäftigte jüdische Minderheit in Deutschland nur noch schwer als Bedrohungspotenzial darstellen. Vielmehr ging es nach sechs Jahren nationalsozialistischer Judenverfolgung darum, den Erfolg einer systematischen Politik der Ausschaltung propagandistisch herauszustellen. Der durch das Regime beabsichtigte »soziale Tod« der noch in Deutschland lebenden Juden, ihr weitgehendes »Verschwinden« aus der deutschen Gesellschaft war kaum vereinbar mit groß angelegter antisemitischer Agitation – zumal die Bevölkerung, nachdem sie die Ereignisse vom 9. und 10. November weitgehend negativ aufgenommen hatte, nun auch auf die neuerliche Propagandawelle offenbar ohne großen Enthusiasmus reagierte. Das Hauptziel der Propagandakampagne, Kritik gegen die antisemitische Politik zum Verstummen zu bringen, schien ohnehin erreicht zu sein, wie eine ganze Reihe von lokalen Berichten aus Bayern zeigt. 107
    Nach dem Ende der intensiven Kampagne verlegte sich die Propaganda nun – neben Schilderungen der angeblich verhängnisvollen historischen Rolle der Juden 108 – vor allem darauf, ganz im Geiste der Hitler-Rede vom 30. Januar die »Judenfrage« als ein internationales Problem darzustellen, für das es nur radikale Lösungen geben könne. »Das Weltjudentum«, so erklärte Rosenberg Ende März in einer Rede vor Sudetendeutschen, die der Völkische Beobachter ausführlich wiedergab, »hat dem Reich den Krieg erklärt.« Bei der Befreiung von »den jüdischen Parasiten« komme Deutschland eine Vorreiterrolle zu, die auch »im Interesse der europäischen Völker liege«. 109 Und Robert Ley, der Führer der Deutschen Arbeitsfront, verkündete im Mai 1939 in Innsbruck: »Der Jude kann nicht allein in unserem Volk vernichtet sein, sondern wir dürfen nicht eher ruhen und rasten, bis der Jude in der ganzen Welt vernichtet ist.« Die Rede wurde im Rundfunk ausgestrahlt. 110
    Das »Weltjudentum« geriet nun immer stärker in den Blick: als Verursacher des Palästinaproblems, 111 als vermeintlich unheilvoll wirkende Minderheit in verschiedenen Ländern, die »Abwehr« hervorrufen musste, und vor allem als »Drahtzieher« der amerikanischen Regierung, die deshalb »Kriegshetze« gegen Deutschland betreibe. Dagegen, so die Aufforderung an die Presse 1939, sei scharf vorzugehen. 112
    Die gesamte Presse (nicht nur die Parteiblätter) veröffentlichte daraufhin in den kommenden Wochen und Monaten massive Attacken gegen die Regierung Roosevelt: Dieser vollstrecke die »Prophezeiungen« der Protokolle der Weisen von Zion , er sei Mitwisser bei einem Mordkomplott und führe die USA in eine

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