Dawning Sun (German Edition)
keuchend.
„Keine Angst, die Wände sind schalldicht isoliert. Mein Vorgänger hat hier drin Schlagzeug gespielt.“
Tom grinste und setzte sich im perfekten Lotussitz neben ihn. Überhaupt besaß er eine kraftvolle Anmut in jeder Bewegung, die Josh bislang nie bemerkt hatte.
„Du bist ausdauernd, das war gut.“ Das Lob fühlte sich wie eine Siegerehrung an, obwohl Josh klar war, dass er gerade nichts Besonderes geleistet hatte. Hätte er nicht zuvor zwei Tage mit Brechdurchfall flach gelegen, hätte er nicht so rasch aufhören müssen.
„An deinem Körper ist nichts falsch“, sagte Tom und nahm wieder diesen Ausdruck intensiven Ernstes an. „Du bist stark genug, um dich zu wehren. Du musst lernen, dass du genau das tun darfst.“
„Was ist, wenn mich mehrere angreifen? Sie haben zu viert vor mir gestanden. Du hättest sie natürlich aus dem Weg räumen kö…“
„Nein.“ Tom fiel ihm mit einer ungeduldigen Geste ins Wort. „ Natürlich wäre daran nichts gewesen. Möglich, ja, mehr nicht.“
„Keiner von ihnen beherrscht irgendeinen Kampfsport.“
„Müssen sie auch gar nicht.“ Tom seufzte und dachte kurz nach, bevor er weiter erklärte: „Stehen vier Mann in einer Reihe nebeneinander, habe ich gute Chancen, solange sie davon ausgehen, dass ich ein wehrloses Opfer bin. Ich kann mich ducken, den beiden mittleren die Fäuste in den Unterleib rammen und wie vom Teufel gehetzt weglaufen, bevor deren Kumpel kapiert haben, was los ist. Wenn vier Mann rumstehen und nicht wissen, dass ich sie angreifen werde, ich also den Überraschungsmoment voll ausnutzen kann, dann schlage ich sie problemlos alle nieder. Sobald sie allerdings wissen, dass ich gefährlich bin, auseinanderfächern und echt entschlossen sind, mich zu verletzen, habe ich keine großen Chancen mehr. Das klappt nur im Kino, dass die Gegner schön brav warten, bis sie an der Reihe sind. Ich könnte einen niedertreten, danach habe ich mindestens zwei von ihnen im Kreuz hängen. Ich kenne einen Typ, der ist Deutscher Meister im Ju-Jutsu. Dieser Kampfstil ist auf Verteidigung ausgerichtet, und trotzdem wurde er von einer handvoll besoffener Skins zusammengeschlagen.“
„Wenn ich also wieder von Leon und Konsorten angegriffen werde …“, begann Josh entmutigt.
„… versuchst du alles, um sie mit einer Überraschungsattacke aus dem Konzept zu bringen und danach zu laufen, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie halten dich für ein leichtes Opfer. Das heißt, falsch. Im Augenblick bist du ein leichtes Opfer für alle und jeden.“
„Ich …“
„Es ist nicht deine Schuld, Josh. Nur wenn du dich darauf ausruhst und das leidende Opfer bleiben willst, bist du selbst an deinem Elend schuld.“
Beschämt ließ Josh den Kopf hängen, er wollte nicht, dass Tom anhand seiner Tränen sah, wie tief ihn diese Worte getroffen hatten.
„Menschen denken in einfachen Kategorien, Josh. Sie pappen dir ein imaginäres Etikett auf die Stirn und behandeln dich dementsprechend. Etiketten sind austauschbar, es liegt an dir, und nur an dir, welches Etikett du für die anderen trägst. Was glaubst du, ist mein Etikett?“
„Unnahbarer Gothfreak“, erwiderte Josh ohne zu zögern.
„Exakt. Deines ist im Moment ‚Opfer’. Vorher war es ‚Handballer’ für die einen, ‚Leons Anhängsel’ für die anderen. Würde ich mich morgen im Unterricht outen, indem ich etwa sage: ‚Es ist umstritten, dass Chopin homosexuell war. Ich bin es zweifellos’, was wäre wohl die wahrscheinlichste Reaktion?“
Josh zuckte unsicher mit den Schultern.
„Tja, dann wäre ich vermutlich der schwule unnahbare Gothfreak. Solange ich lässig darüber stehe und es als belanglose Nebensächlichkeit äußere, stört es kaum jemanden. Ein paar homophobe Extremisten werden kotzen gehen. Na und?“
Er ergriff Joshs Hände und drückte sie sanft.
„Du wurdest gegen deinen Willen geoutet und in die Position des Schwachen geschubst. Der Klassenliebling hat sich gegen dich gestellt. Jetzt muss jeder beweisen, dass er nicht so schwach ist wie du, darum attackieren sie dich.“
„Was soll ich tun?“ Josh konnte sich kaum konzentrieren. Diese körperliche Nähe zu Tom war mindestens ebenso aufwühlend wie ihr Gesprächsthema.
Woher weiß er das alles?
„Söhne dich mit Leon aus. Wenn er zeigt, dass er dich nicht mehr auf dem Kieker hat, und du dich ansonsten ruhig und gelassen verhältst, müsste es besser werden. Nico ist auf Krawall aus, aber ich denke, er ist der Typ laut und feige . Oder hat
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