Dawning Sun (German Edition)
waren auf ihn gerichtet. Niemand wagte, ihn anzusprechen. Niemand mobbte ihn mehr, niemand fragte, ob wirklich er es war, der auf dem Video zu sehen war. Nicht einmal Herr Grothe, als der ihm in der Vorhalle über den Weg lief. Er fragte lediglich, ob Josh zum Abendtraining kommen würde und nickte verständnisvoll, als Josh sich nicht festlegen wollte.
„Wenn es geht, du bist immer willkommen. Du gehörst zum Team.“ Es klang, als müsse er sich selbst überzeugen.
Dass Tom kaum einen Schritt von seiner Seite wich, heizte das Flüstern und Raunen noch mehr an.
„Was hat der mit dem Goth zu schaffen?“
„Nee, was hat der Goth mit ihm zu schaffen? Der hat doch noch mit keinem freiwillig geredet.“
„Die scheinen ganz schön dicke miteinander zu sein.“
„Meinst du, die beiden …?“
Tom setzte sich so selbstverständlich neben Josh, als wäre hier schon immer sein Tisch gewesen. Man sah allen an, dass sie vor Neugier platzten, aber keiner wagte es, sie anzusprechen.
Die Tür ging auf. Es hätte Frau Krämer sein müssen, die Englischlehrerin. Stattdessen kam Frau Fuchs herein. Sie war die Schuldirektorin und winkte Josh ohne ein Wort zu sagen zu sich, hinaus auf den Flur. Tom drückte ihm kurz die Hand, in einer solch raschen und flüchtigen Bewegung, dass wahrscheinlich niemand sie bemerkte. Es tat Josh gut. Wie er die vergangene Woche durchgestanden hatte, ohne jemanden unerschütterlich an seiner Seite zu haben, er wusste es nicht.
Frau Fuchs redete nicht lange drumherum, sondern kam direkt zur Sache:
„Joshua, mir wurde eben ein … abscheuliches Video gezeigt. Es gibt Gerüchte, die besagen, dass Sie das Opfer sind.“
Josh wartete geduldig auf eine direkte Frage, die Arme vor der Brust verschränkt, lässig an die Wand gelehnt. Frau Fuchs wippte auf den Fußballen, bis das Warten peinlich wurde. Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau Mitte vierzig. Das honigblonde Haar trug sie modisch kurzgeschnitten, und auch sonst passte sie in kein echtes Klischee hinein. Sie war streng und dabei nicht immer gerecht, freundlich, ohne mütterlich zu wirken, engagiert, ohne in Extreme zu verfallen. Wer mit ihr Unterricht haben durfte – Deutsch und Politik – galt als Glückskind, denn sie gehörte zu dem seltenen Lehrertyp, der selbst die langweiligsten Themen interessant gestaltete und selten Strafen oder sonstigen Maßnahmen benötigte, um eine Klasse ruhig zu halten. Man durfte sie nicht reizen, dann war alles gut.
Ihre klugen Augen musterten ihn intensiv.
„Joshua, wurden Sie vorletzte Woche Freitag angegriffen und misshandelt, ja oder nein?
„Nein.“
Erstaunlich, wie glatt die Lüge über seine Lippen ging. Josh hielt dem Blick der Direktorin mühelos stand. Er wollte kein ‚Fall’ werden. Keine Polizei. Keine Presse. Er wollte seine Ruhe. Einfach nur seine Ruhe!
„Ich würde gerne mit Ihren Eltern darüber reden.“
„Das will ich unter gar keinen Umständen.“
Frau Fuchs verzog ärgerlich das Gesicht. Josh war volljährig. Man konnte ihn nicht mehr zu irgendetwas zwingen, was ihm nicht gefiel.
„Ich werde mich mit der Polizei darüber unterhalten, ob dieses Video in unserer Schule gedreht wurde. Falls dem so sein sollte, wird man mit Ihnen reden wollen.“
„Wenn es sich nicht verhindern lässt, dann ja.“ Josh zuckte nachlässig die Schultern.
Machtlos musste Frau Fuchs ihn gehen lassen.
Den ganzen restlichen Tag wartete Josh, dass man ihn zur Befragung rufen würde, doch es geschah nicht. Kein Polizeiwagen fuhr vor, die Turnhalle wurde nicht gesperrt.
Er spürte Leons und Nicos Panik. Die beiden tuschelten unentwegt, starrten fast pausenlos zu ihm herüber. In den Pausen standen sie mit Gero und dem anderen Kerl – Jannik? – zusammen.
Tom versuchte ihn abzuschirmen, ohne viele Worte zu verlieren. Wie ein mystischer Wächter aus irgendeinem düsteren Fantasyfilm stand er vor Josh und ließ jeden abdrehen, der versuchte, seinen Schützling anzusprechen. Er wollte sogar seine Kurse schmeißen, die ihn von Josh trennen würden, doch das ging Josh zu weit.
„In ein paar Wochen fangen die Klausuren an, du kannst jetzt nicht einfach blau machen! Geh bitte, ich komme klar.“
Tom musterte ihn stumm und zog ab, ohne zu diskutieren.
Obwohl Josh sich zunehmend erstickt gefühlt hatte von so viel Beschützerinstinkt, vermisste er Tom bereits, noch bevor dieser den Klassenraum verlassen hatte. Nun wurden die Blicke der anderen erst richtig spürbar. Die Neugier. Das Mitleid derjenigen, die davon
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