Dawning Sun (German Edition)
aber wir waren vorher Freunde gewesen. Ist er wirklich so homophob?“
Leon blickte sich wie gehetzt um und drängte sich noch dichter an Joshs Tisch.
„Er hat mich eingeladen, an einer Versammlung teilzunehmen. Es sei eine Ehre, die nur für Leute mit den richtigen Ideen reserviert wäre, Leute, denen man vertrauen kann. Ich weiß nichts Genaueres, ich glaube, Nico ist irgendwie in die rechte Szene abgerutscht. Nazitypen. So was eben. Ich glaube, er will denen beweisen, dass er würdig ist, dort Mitglied zu werden, oder vielleicht ist er es auch schon. Er redet von Mutproben. Du sollst der Beweis sein … Keine Ahnung, wie weit er gehen würde. Mich will er mit da hineinziehen. Ständig faselt er, dass er mich in der Hand hätte, dass er beweisen könne, ich sei dabei gewesen. Ich will das alles nicht, Josh. Ich will, dass alles wieder in Ordnung kommt.“
Leon sprang auf und verließ den Raum, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen.
Josh starrte auf seinen Schreibblock, ohne etwas zu erkennen. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Das war ein Albtraum. Neonazis gab es nicht in ihrem kleinen Städtchen. Die prügelten sich in den Großstädten, irgendwo weit weg, oder? Der gut gelaunte Nico, der so gerne Fußball spielte, Samstag in die Disco ging, jeden Mittwoch seine Oma im Altenheim besuchte, der Zeitungen austrug und auf Angelina Jolie stand, der mit Josh und Leon zahllose Autorennen auf der Playstation gefahren war, der Josh gestützt hatte, als der bei einer Geburtstagsparty sturzbetrunken in den Vorgarten der Gastgeber gekotzt hatte … Was wollte Nico bei den Rechtsextremen? Er war ein ganz normaler Kerl, mit ganz normalen Eltern, die weder stinkend reich noch arm und schon gar nicht geschieden waren. Er nahm keine Drogen, er wurde nicht von seinem Vater geschlagen, er war noch nicht einmal im Bürgerschützenverein. Nico war normal, kein Nazityp!
Was treibt einen normalen Menschen dazu, einen Freund zu verprügeln und mit einer Flasche zu missbrauchen?, dachte Josh. Wie betäubt nahm er einen Stift zu Hand und versuchte wenigstens so zu tun, als würde er konzentriert arbeiten.
Manchmal gibt es einfach keinen erkennbaren Grund, warum jemand an etwas glaubt …
24.
„Endlich Wochenende“, sagte Josh befreit. Tom lächelte still neben ihm, wie meistens. Josh hatte ihm erzählt, was Leon gesagt hatte. Wirklich etwas tun konnten sie nicht, zumal Josh keine Lust hatte, über Nicos Gesinnung zu diskutieren. Zwei Tage lang war nichts geschehen, jetzt freuten sie sich auf das Wochenende. Zeit füreinander, Auszeit von den Spannungen in der Schule. Albträume litt Josh weiterhin, aber der ganz große Schock schien allmählich nachzulassen. Er konnte normal essen, zuckte nicht mehr bei jeder überraschenden Bewegung zusammen und lag nicht stundenlang wach im Bett, verfolgt von Erinnerungsbildern und dem Gelächter seiner Angreifer.
Sie gingen zu Fuß ihre übliche Route: Tom begleitete ihn nach Hause, danach würde er allein zu seiner Wohnung marschieren. Für den Nachmittag hatten sie sich ein großes Lernpaket geschnürt, sie wollten sämtliche Daten der Literaturgeschichte sowie die wichtigsten Werke jener Schriftsteller durchgehen, die bei den Klausuren am wahrscheinlichsten drankommen würden. Nicht, dass sie sich darauf freuen würden …
„Nicht mehr lange, dann sind wir Schiller, Goethe, Böll, Brecht und Co. endlich los.“
„Ich lese die eigentlich ganz gerne …“, brummelte Tom.
„Ich auch, aber nicht, wenn ich sie analysieren muss.“
Tom wollte etwas erwidern, doch er blieb ruckartig stehen und nahm übergangslos Kampfhaltung an. Vor ihnen stand Nico, die Arme vor der Brust verschränkt, ein düsteres Grinsen im Gesicht. Hinter ihnen nahm Leon Aufstellung, mit einem sehr unglücklichen Blick in Joshs Richtung.
„Wie fickt er sich, Tommy?“, fragte Nico. „Er kann doch wieder, oder? Alles verheilt?“
Tom schwieg. Er drängte Josh einen Schritt zur Seite und drehte sich ein wenig, damit er Leon und Nico zugleich wachsam beäugen konnte.
„War sicher eine nette Überraschung, dass er eine Schwuchtel ist, hm? Vorher hattest du jedenfalls kein Interesse an ihm.“
„Was willst du?“, fragte Josh nervös. Es war eine ungünstige Stelle, an der sie sich befanden – rechterhand eine hohe Mauer, links eine menschenleere Straße ohne Versteckmöglichkeiten in erreichbarer Nähe. Rufen würde hier wenig nutzen, in dieser Ecke lebten alte Leute in betreuten Wohneinheiten.
„Hau
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