Days of Blood and Starlight
, dachte Karou mit einem Anflug von Mitleid. Hvitha war nie wirklich freundlich zu ihr, aber er war auch nicht unfreundlich, und es war bestimmt nicht schön, wenn man wusste, dass einem in ein paar Stunden die Kehle aufgeschlitzt wurde. Was für eine Verschwendung von Brimstones Handwerkskunst.
Aber die Entscheidung liegt ja nicht bei mir.
Karou kam an einer Mauer vorbei, auf der jemand seine Kleider zum Trocknen ausgebreitet hatte, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Kasbah inzwischen richtig bewohnt wirkte – dank ihr. Neun Soldaten hatte sie in den letzten Wochen erschaffen – durch Tens Hilfe war sie schneller geworden, allerdings sahen ihre Arme echt übel aus –, und plötzlich herrschte in der Kasbah viel mehr Leben. Sie hörte Aegirs Hammer und sah Rauch aus dem Schornstein der Schmiede aufsteigen, sie roch das dezente Aroma von kochendem Couscous und den alles andere als dezenten Gestank des Pfeilers, den die Soldaten als ihren Piss-Pfeiler auserkoren hatten. Weil sie ja unmöglich die paar Schritte aus der Kasbah hinausgehen konnten – oder fliegen .
Wozu erschaffe ich euch Flügel, wenn ihr sie nicht mal dafür verwendet, ein bisschen weiter weg zu pissen?
Streit, Gelächter und aus der Richtung des Hofs das Klirren neu erschaffener Waffen, die mit neu erschaffenen Händen geschwungen wurden – offenbar half das den Wiedergängern, sich an ihre neuen Körper zu gewöhnen. Karou blieb unter einem Torbogen stehen, um den beiden Kontrahenten zuzusehen, und erkannte sofort Ziri. Er kämpfte mit Ixander, ihrer bisher größten Monstrosität, und im direkten Vergleich wirkte er geradezu winzig.
Ixander war schon immer riesig gewesen – er gehörte zu den Akko, einem großen Stamm, der eine der Hauptstützen der Chimärenarmee bildete – aber jetzt war er so gigantisch wie ein ausgewachsener Grizzlybär, mindestens drei Meter groß, breit wie ein Schrank und mit beängstigend langen Stoßzähnen ausgestattet. Seine Flügel waren fast so enorm wie die eines Sturmjägers, und die Muskeln, die sie hielten, ließen seinen Rücken noch massiger erscheinen, als er sowieso schon war. Der Körper war nicht gerade elegant, und das tat Karou leid. Als sie Ixanders Seele gespürt hatte, war sie mehr als überrascht gewesen über ihren sanften Wiesenduft.
Die Berührung einer Seele konnte ganz verschiedene Sinneseindrücke hervorrufen: Geräusche oder Farben, aufblitzende Bilder oder Gefühle. Ixanders Seele war wie eine Frühlingswiese: frisch erblüht, lichtgesprenkelt und still – das absolute Gegenteil des kolossalen Bestienkörpers, den er jetzt, mit Ziris Hilfe, zu meistern versuchte.
Ziri schwang sich in die Lüfte, elegant und lautlos, und bedeutete Ixander, ihm zu folgen, was der Akko weder elegant noch lautlos tat. Das Schlagen seiner gigantischen Schwingen sah aus, als wollte er die Luft prügeln, und wirbelte so viel Staub auf, dass Karou am anderen Ende des Hofs noch fast niesen musste. Einige Meter über dem Boden fingen die beiden mit dem Kampftraining an, und Karous Aufmerksamkeit galt dabei nicht Ixander, sondern Ziri. Ihre Wut ebbte ab, und alle Gedanken an Thiago verschwanden aus ihrem Kopf, als sie den Kirin fliegen sah.
Jedes Mal war es, als würde sie in ihr Leben als Madrigal zurückgeholt. Nie hatte sie sich mehr wie eine Chimäre gefühlt als in dem Augenblick, in dem sie das erste Mal den erwachsenen Ziri gesehen hatte, und sie hatte sich nie menschlicher gefühlt als in dem Moment direkt danach, als ihr plötzlich bewusst geworden war, wie sehr sie sich verändert hatte. Sie spürte keine Enttäuschung bei dieser Erkenntnis – sie war, wer sie war. Sie fühlte sich nur ein kleines bisschen verwirrt, als würde sie ganz kurz zwischen zwei Identitäten schweben, die zwar beide zu ihr gehörten, aber immer getrennt bleiben würden.
»Du könntest wieder eine Kirin sein«, hatte Ten am Fluss zu ihr gesagt.
»Was?« Karou, die sich gerade die Haare ausspülte, hatte gedacht, sie hätte sich verhört.
»Du könntest wieder eine Chimäre sein. Dann würden dich die anderen vielleicht eher akzeptieren.«
Die Wölfin hatte Karou erneut von oben bis unten gemustert, und angesichts ihrer bemitleidenswerten Menschlichkeit ein verächtliches Schnauben ausgestoßen. »Ich könnte dir helfen.«
»Mir helfen?« Das sollte wohl ein Witz sein. »Du willst mir helfen, indem du mich umbringst ? Wow, das ist ja wirklich nett von dir!«
Aber Ten machte keine Witze. »O nein. Umbringen
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