Days of Blood and Starlight
ich neue Zähne sammeln muss?«, hatte Karou Thiago gerade erst an diesem Morgen gefragt. »Sie mit mir losschicken?«
»Ten? Nein. Ten wird dich nicht begleiten«, hatte er in einem Ton erwidert, dem Karou sofort anhörte, was er damit sagen wollte.
»Was, du ? Du wirst mitkommen?«
»Ich gebe zu, dass ich neugierig bin auf diese Welt. Sie hat sicher mehr zu bieten als diese Wüste. Du kannst sie mir zeigen.«
Er meinte es ernst. Karous Magen hatte sich verkrampft. Das mit Ten war nur ein Witz gewesen, aber selbst ihre Gesellschaft wäre ihr noch lieber gewesen als seine . »Das kannst du nicht. Du bist kein Mensch – du würdest gesehen werden. Und du kannst nicht fliegen.« Und ich hasse dich, und ich will nicht, dass du mitkommst.
»Wir werden uns etwas überlegen.«
Ach wirklich? Karou hatte sich vorgestellt, wie Thiago in der Giftküche saß, seine Wolfsbeine lässig auf einem Sarg ausgestreckt, und sich Gulasch in seinen grausamen, sinnlichen Mund schaufelte. Würde Zuzana wohl genauso von seiner Schönheit schwärmen wie bei Akiva? Nein, Zuze würde ihn sofort durchschauen.
Aber dieser Gedanke hatte eine Schwachstelle: Zuzana hatte Akiva auch nicht durchschaut. Genauso wenig wie sie selbst. Offensichtlich hatte Karou trotz allem eine ganz schlechte Monsterkenntnis, was in ihrer derzeitigen Situation wirklich nicht gerade vorteilhaft war.
»Wer hat den Riegel abgemacht?«, fragte sie Ten nun noch einmal.
»Warum machst du so einen Aufstand wegen einem Stück Holz?«
»Dieses ›Stück Holz‹ war meine Sicherheit !«
War das der Preis für saubere Haare? Wie sollte sie schlafen, wenn jeden Moment jemand in ihr Zimmer stürmen konnte? Sie schlief auch so schon schlecht genug. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, ein flinker kleiner Gedanke, der sich wie eine Stecknadel in ihr Herz bohrte: Das letzte Mal richtig gut geschlafen hatte sie in jener Nacht in Prag, als Akiva auf dem Sessel direkt neben ihr eingenickt war. Was war nur los mit ihren Sensoren, dass sie sich mit ihm sicher gefühlt hatte? »Das war deine Idee, oder? Weil ich dich letzte Nacht ausgesperrt hab?«
Selbst die Wandhalterungen waren herausgerissen, so dass sie nicht einfach einen neuen Balken suchen und den Riegel wieder benutzen konnte. »Willst du, dass mich jemand im Schlaf umbringt?«, schrie sie Ten an.
»Beruhige dich, Karou«, sagte die Wölfin. »Niemand will dich umbring…«
»Ach ja? Will es niemand, oder tut es nur keiner?«
Hatte sie erwartet, dass Ten die Situation schönreden würde? »Also gut. Niemand wird dich umbringen«, räumte die Wölfin ein. »Du stehst unter dem persönlichen Schutz des Weißen Wolfs. Das ist besser als irgendein Stück Holz. Jetzt komm, machen wir uns an die Arbeit. Wir müssen Emylion noch fertigstellen, und Hvitha geht heute in die Grube.«
Und damit sollte sich die Sache erledigt haben? Erwartete Ten ernsthaft, dass sie sich so leicht geschlagen geben würde, dass sie einfach an Thiagos Wunschliste weiterarbeiten würde, als wäre nichts gewesen? Da kannte die Wölfin sie aber schlecht. Karou drehte sich zur Treppe um, aber Ten stand ihr im Weg, also marschierte sie durch ihr Zimmer zum offenstehenden Fenster. Wenn Thiago sie unter ständiger Bewachung halten wollte, dann sollte er besser einen Schatten engagieren, der fliegen konnte.
Ten erkannte, was sie vorhatte, und schaffte gerade noch in warnendem Ton: »Karou …« zu sagen, als sie schon aus ihrem Fenster schwebte. Sie verharrte gerade lange genug, um der Wölfin einen trotzigen Blick zuzuwerfen, dann ließ sie sich fallen. In halsbrecherischem Tempo. Die Luft pfiff ihr um die Ohren, der Boden kam ihr rasend schnell entgegen. Im letzten Moment fing sie sich und landete vier Stockwerke unter ihrem Fenster in der Hocke.
Autsch. Offenbar hatte sie ein bisschen zu spät abgebremst. Ihre Fußsohlen schmerzten, aber dafür hatte ihre Landung bestimmt richtig schön dramatisch ausgesehen. Ten streckte den Kopf aus ihrem Fenster, und Karou musste den Drang unterdrücken, ihr den Stinkefinger zu zeigen. Sei nicht so typisch Mensch! , wies sie sich zurecht, und machte sich auf die Suche nach Thiago.
Er war wahrscheinlich im Wachhaus, dem halb eingestürzten Gebäude, in dem er sich mit seinen Feldherren traf, Strategien ausarbeitete, Karten in den Sand zeichnete und sie wieder wegwischte, grübelte, schimpfte, plante. Auf dem Weg begegnete sie Hvitha, der ihr wortlos zunickte, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Wir sehen uns später
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