de la Cruz, Melissa - The Immortals 1
Kerzenleuchter hing im Ballsaal, durch dessen hohe Fenster man den Central Park sehen konnte, und im Foyer befand sich ein Arrangement aus edlen Teppichen und antiken Schreibtischen. In den kupfernen Kerzenhaltern steckten nun Glühbirnen und der knarrende Fahrstuhl funktionierte noch immer. Es war allerdings nur dem Personal erlaubt, ihn zu benutzen. Der Dachboden – eine charmante Mansarde – war komplett in ein Atelier mit Druckerpresse und Lithografiemaschine verwandelt worden. Die Räume im Erdgeschoss beherbergten ein voll ausgestattetes Theater, eine Turnhalle und eine Cafeteria. Metallspinde standen jetzt in den Gängen mit den Lilienmustertapeten und die oberen Zimmer hatte man zu Klassenräumen umfunktioniert. Generationen von Schülern hätten schwören können, dass der Geist von Mademoiselle Duchesne in der dritten Etage spukte.
Fotografien aller Abschlussklassen hingen im Gang zur Bibliothek. Da die Duchesne früher eine Mädchenschule gewesen war, zeigte die erste Aufnahme von 1869 eine Gruppe von sechs mürrisch dreinblickenden Jungfern in weißen Ballkleidern. Zur damaligen Zeit steckte das Fotografieren noch in seinen Anfängen und Bilder konnten nur auf Metallplatten festgehalten werden. Unter jedem Mädchen war sein Name eingraviert. Mit dem Lauf der Jahre wichen diese Daguerreotypien des neunzehnten Jahrhunderts den Schwarz-Weiß-Fotografien der nächsten Epoche. Zu sehen waren darunter die auftoupierten Schwanenfrisuren der 1950erJahre, die langhaarigen Gentlemen der Achtundsechziger-Generation – als die Schule endlich auch Jungen aufnahm – und schließlich die leuchtenden Farbfotos charmanter junger Damen und schicker junger Männer der jetzigen Generation. Dennoch hatte sich nicht allzu viel geändert: Die Mädchen trugen auf den Abschlussfotos noch immer weiße Kleider, weiße Handschuhe und Efeugirlanden im Haar. In den Händen hielten sie den unumgänglichen roten Rosenstrauß, während die Jungen maßgeschneiderte Anzüge und Krawatten mit perlenbesetzten Krawattennadeln anhatten.
Die grauen Schuluniformen waren längst Vergangenheit, aber nach wie vor, so auch jetzt, kündigten sich schlechte Neuigkeiten mit dem Ausfall der ersten Stunde und einer Lautsprecherdurchsage an.
»Achtung, außerplanmäßiges Treffen in der Kapelle. Alle Schüler sofort in die Kapelle!«, tönte es über das Schulgelände.
Skyler traf Oliver auf dem Flur vor dem Musikraum. Sie hatten sich seit Freitagnacht nicht gesehen. Keiner von ihnen hatte bisher die Begegnung mit Jack Force vor der Bank angesprochen, was ziemlich ungewöhnlich war, weil die beiden normalerweise alles bis ins kleinste Detail bequatschten.
Als er Skyler an diesem Morgen traf, gab sich Oliver betont kühl. Aber Skyler bemerkte seine Distanziertheit überhaupt nicht – sie ging geradewegs auf ihn zu und hakte sich bei ihm unter.
»Was ist denn los?«, fragte sie und legte den Kopf an seine Schulter.
»Wenn ich das wüsste.« Er zuckte mit den Achseln.
»Du weißt doch immer, was los ist«, drängte Skyler.
Oliver wurde weich. »Okay, aber ich sag’s dir nicht.«
Er mochte es, ihr Haar an seinem Hals zu spüren. Skyler war heute besonders hübsch. Sie trug ihr langes Haar offen und sah wie ein Model aus in ihrem übergroßen Marinemantel, den ausgebleichten Jeans und schwarzen Cowboystiefeln.
Er blickte sich nervös um. »Ich glaube, es hat etwas mit den Leuten zu tun, die dieses Wochenende im Block 122 waren.«
Skyler hob die Augenbrauen. »Mit Mimi und ihrem Gefolge? Warum? Fliegen sie von der Schule?«
»Vielleicht.« Oliver grinste.
Letztes Jahr war die ganze Rudermannschaft wegen Regelverstößen von der Highschool verwiesen worden. Eines Abends waren die Sportler in das Gebäude zurückgekommen, um den Sieg bei einer wichtigen Regatta zu feiern, hatten die Klassenräume in der zweiten Etage verwüstet, die Wände mit Graffiti beschmiert und ihre angebrochenen Bierflaschen, Zigarettenkippen und zum Koksen eingerollten Dollarscheine hinterlassen. Der Elternbeirat hatte die Schulleitung ersucht, ihre Entscheidung zu überdenken. Einige Eltern fanden den Ausschluss tatsächlich zu hart, während andere ihre Kinder vor einem Vorstrafenregister schützen wollten. Dass der Anführer, ein schleimiger Harvard-Aspirant, der Neffe der Schulleiterin war, machte die Sache noch viel brisanter. Harvard hatte prompt seine Aufnahme widerrufen und der gefeuerte Bootsmann durfte sich nun auf der Duke University heiser
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