de la Cruz, Melissa - The Immortals 1
Sonderbehandlung! Doch Jack schüttelte den Kopf und sagte, dass er gerne in die zweite Stunde gehen würde.
Wieder draußen fanden sie die weiten, mit Läufern ausgelegten Flure leer und verlassen vor. Alle hatten Unterricht. Sie waren praktisch allein. Mimi streckte die Hand aus und glättete ihrem Bruder den Kragen. Doch als ihre Finger seinen sonnengebräunten Hals berührten, wich er zurück.
»Lass das, okay? Nicht hier!«
Sie fragte sich, warum er so nervös war. Zu einem gewissen Zeitpunkt würde sich ihre Beziehung ohnehin ändern. Er wusste es, schien es aber nicht akzeptieren zu wollen oder zu können. Ihr Vater hatte ihnen ihre Familiengeschichte sehr anschaulich geschildert und ihre Rollen für die Zukunft standen bereits fest. Jack hatte keine Wahl und Mimi fühlte sich irgendwie gekränkt durch sein Benehmen.
Sie betrachtete ihren Bruder – ihren Zwilling, ihre andere Hälfte. Als sie klein waren, hatten sie unfreiwillig jeden Schmerz geteilt. Wenn sie sich den Zeh stieß, weinte er. Als er in Connecticut vom Pferd gefallen war, tat ihr in New York der Rücken weh. Sie wusste immer, was er dachte und fühlte, und sie liebte ihn auf eine Art und Weise, die sie selbst ängstigte. In letzter Zeit zog er sich jedoch von ihr zurück und ließ sie nicht mehr an seinen Gedanken teilhaben. Das fand sie beunruhigend.
»Ich habe das Gefühl, dass du mich nicht mehr magst«, sagte sie und zog einen Schmollmund. Mit der Hand fuhr sie sich durch ihr volles blondes Haar. Sie trug einen dünnen schwarzen Baumwollpullover, der im Neonlicht des Ganges durchscheinend war, und sie wusste, dass er die cremefarbenen Spitzen ihres BHs durch das dünne Gewebe schimmern sah.
Jack bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. »Das ist gar nicht möglich. Dann müsste ich mich ja selbst hassen. Ich bin doch kein Masochist.«
Sie zuckte langsam mit den Achseln, wandte den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe.
Er zog sie an sich, umarmte sie und presste seinen Körper an ihren. Ihre Augen befanden sich auf einer Höhe und es war, als schauten sie in einen Spiegel.
»Sei lieb«, sagte er.
»Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?«, brach es aus ihr heraus. Doch es war schön, so umarmt zu werden, und auch sie drückte sich fest an ihn. »Ich hab Angst, Jack«, flüsterte sie.
Sie waren in jener Nacht in Angies Nähe gewesen. Angie konnte doch nicht einfach tot sein! Das war unmöglich. Aber sie hatten Angies Körper im Leichenschauhaus gesehen, an diesem kalten grauen Morgen. Sie und Jack hatten ihn identifizieren müssen. Mimi war die Letzte gewesen, die mit ihrem Handy Angie angerufen hatte. Sie hatten ihre leblosen Hände gehalten und voller Entsetzen den eingefrorenen Schrei in ihrem Gesicht betrachtet. Das Schlimmste jedoch waren die Bisswunden an Angies Hals gewesen. Undenkbar! Ein Hohn geradezu!
»Es ist ein gemeiner Scherz, nicht wahr?«
»Leider nein.« Jack schüttelte den Kopf.
»Vielleicht ist sie nur sehr früh in den nächsten Zyklus eingetreten?«, sagte Mimi in einem Anflug von Hoffnung, dass es doch noch einen logischen Grund für Angies Ende gab. Es musste schließlich einen geben. Solche Dinge passierten einfach nicht. Nicht ihresgleichen!
»Nein. Sie haben ihren Körper untersucht. Das Blut ist fort.«
Mimi lief ein Schauer über den Rücken. »Was meinst du damit?«, fragte sie atemlos.
»Sie war völlig ausgetrocknet.«
Mimi wand sich aus seiner Umarmung. »Du machst Witze, oder? Das ist unfassbar!«
»Beim nächsten Komitee -Treffen wird es übrigens neue Mitglieder geben. Die Briefe sind heute rausgegangen.«
»Jetzt schon? Aber es haben nicht einmal alle begonnen, sich zu entfalten«, protestierte Mimi. »Ist das nicht gegen die Regeln?«
»Es ist ein Notfall.«
Mimi seufzte. »Verstehe.« Es hatte ihr gefallen, eine der Jüngsten zu sein, und es passte ihr ganz und gar nicht, dass sich dies nun ändern würde.
»Ich geh jetzt in die Klasse. Und du?«, sagte er und stopfte sich das T-Shirt in die Hose, was völlig sinnlos war, denn als er sich nach seiner Ledertasche bückte, rutschte es wieder heraus.
»Shoppen«, antwortete sie und setzte ihre Sonnenbrille auf. »Ich habe nichts, was ich auf der Beerdigung anziehen kann.«
6
S kyler hatte in der zweiten Stunde Ethik. Der Unterricht war klassenstufenübergreifend und für die jüngsten und mittleren Jahrgänge frei wählbar. Ihr Lehrer, Mr Orion, war ein kraushaariger Absolvent der Brown University. Auffallend
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