de profundis
Kamera. »Ich habe alles endgültig begriffen.«
Er machte eine Pause. Sumpf und ich sahen ihn erschrocken an.
»Ihr Menschen!«, sagte Iwan Grigorjewitsch, an die Fernsehzuschauer gewandt, sich den Lippenstift abwischend. »Vor vielen Jahrtausenden wurde aus einer anderen Galaxis der Same raffinierter Zweibeiner, überheblicher Egoisten auf der Erde eingeschleppt. Sie kamen unter die vertrauensseligen Ureinwohner und benahmen sich überall wie Bazillen. Diese Erreger des Bösen«, dröhnte die Stimme Iwan Grigorjewitschs, und unwillkürlich genoss ich den Anblick des Alten, »finden leicht Zugang zum jeweiligen Milieu, lösen sich aber nicht in ihm auf und verändern keineswegs ihr zerstörerisches Wesen. Über eine Geheimsekte regieren sie bereits den Planeten Erde, allerdings eben noch im Geheimen. Auf dem Wege zur Weltherrschaft stießen sie auf unser großartiges Land. Das gibt es nun nicht mehr, sie haben das Hindernis aus ihrem schwarzen Wege geräumt. Unser Planet versinkt in einem Ozean der Lüge.«
»Erhebet euch, ihr Reußen«, flüsterte Aljona, »jung und alt, vergesset allen Hader und Zwist, werft euch mit vereinten Kräften auf das Ungeheuer! Ihr Fürsten Alexander und Dmitri! Stalin und Jesus Christus! Erstehet in Gestalt eurer Kinder und Kindeskinder! Schonet nicht Leib noch Leben für die heilige Rus. Oooh!«, stöhnte sie sehr intim. »Ah!«
Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Das Halbdunkel verdichtete sich. Vater und Tochter überließen sich einem leichten, angenehmen Dahindämmern.
»Das ist ein direkter Aufruf zur Vernichtung der Juden«, sagte Sumpf, während er auf dem Treppenabsatz rauchte.
»Ihre Tochter ist umgekommen«, sagte ich stirnrunzelnd.
»Das Opfer eines Verkehrsunfalls«, sagte Sumpf.
»Pack die Kamera ein und lass uns gehen.«
Sumpf schüttelte langsam den Kopf. Das Treppenhaus hatten irgendwelche Randalierer vollkommen eingesaut.
»Ich als Jude …«
»Schon gut, schon gut«, sagte ich. »Spuck ihm beim Rausgehen in die Fresse. Von mir gleich mit. Ich geh da jedenfalls nicht mehr rein.«
Sumpf missfiel es sehr, dass ich den falschen Schnurrbart abnahm, und er sagte:
»Wenn ich diese Natter nicht zerquetsche, wird viel Blut fließen.«
»Gehen wir«, bat ich. »Altersschwachsinn und sonst nichts.«
»Ansteckender Schwachsinn.« Er zündete sich eine neue Zigarette an.
»Der Opa ist verknallt«, sagte ich. »Lass ihn in Ruhe.« Sumpf winkte nur ab.
»Hör mal, du Zionist«, lachte ich, »du hast nichts begriffen. Da ist noch die Alte.«
»Ich wusste nicht, dass du ein Feigling bist«, sagte Sumpf.
»Mein Bester!« Ich fasste ihn am Ärmel. Ich hatte auf einmal eine kreischende Frauenstimme, und ich schämte mich weiterzureden. Ich hatte noch nie in meinem Leben gekreischt wie eine Frau.
Ich ging die Treppe hinunter. Ich hörte, wie die Tür zu Aljonas Wohnung zuschlug.
Elternversammlung
Wie sollte die Abiturfeier ablaufen? Welche Vorschläge würde es wohl geben?
Am Morgen öffnete ich voller Angst die Tür zum Garten. In den Schulbänken saßen ehemalige Sowjetmenschen. Mit Nervengas in Jacke und Handtasche. Manche Mamas gaben sich jugendlich. Andere sahen aus wie alte Frauen, aber vielleicht waren das ja Großmütter. Das war nicht ganz klar. Eigentlich hatte ich keine Zeit, in die Schule zu gehen. Unmerklich waren elf Jahre vergangen. Sie betrank sich dermaßen, dass ihr die Linsen aus den Augen sprangen. An den Wänden des Physikraums hingen verschiedene Entdecker physikalischer Gesetze. Dank einiger von ihnen brannten Glühbirnen an der Decke. Über der Tafel hing niemand.
Es gab keine Vorschläge.
In der Klasse war es nicht sehr warm. Sie saßen im Mantel da. Manche mit geschlossenen Augen. Andere mit offenen. Ein paar Männer waren auch gekommen. Sie hatten einen Gesichtsausdruck, als wäre ihnen in der Früh der »Shiguli« geklaut worden.
Genossen!
So einfach war das, wie in alten Zeiten. Niemand reagierte.
Die Lehrerin mit grauer Haarsträhne sah in die unbekannten Gesichter. Wie alle alten Lehrerinnen war sie redselig. Zwischen den Bäumen entdeckte ich zwei Katzen: eine rostrote und eine schwarz-weiße. Sie öffnete den Mund und war nicht mehr zu bremsen. Sie sprach lange und deutlich artikuliert. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte Großpapa ihr beigebracht, richtig mit Messer und Gabel zu essen, indem er ihr dicke Wörterbücher unter die Achseln klemmte. Was waren das für Wörterbücher in Ledereinbänden? Sie musste sie mit
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