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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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ausgedehnter Fall. Über mir stand der Gullydeckel hochkant wie eine Münze, so dass er den Himmel nicht verdeckte. Kleine chinesische, Heuschrecken ähnliche Offiziere in grellgrünen Uniformen, mit denen ich noch ein Hühnchen rupfen musste, da sie das Dach der Welt mit Blut befleckt hatten, schwirrten vorbei. Stewardessen der China South-West Airlines mit larvenblassen Porzellangesichtchen schwirrten vorbei. Die kleinen Lumpen von der chinesischen Staatssicherheit in sattblauen Uniformen schwirrten vorbei. An den strategisch wichtigen Zugangswegen zu Essensausgabe und Toilette standen, zur Salzsäule erstarrt, frisch angeworbene Tibeterinnen in dunkelgrünen flatternden Hosen, die so weit waren, als müsste man noch hineinwachsen oder als seien sie speziell für asiatische Kampfsportarten gedacht. Die ziegelroten Frauengesichter sahen überhaupt nicht friedfertig aus. Zollbeamten mit schütterem schwarzem Haar und Schnurrbart schwirrten ebenfalls vorbei. Während die indischen Usurpatoren den Reisenden an den innerindischen Grenzen mit ihren meterlangen Schnurrbärten und Karabinern, Baujahr 1898, erschrecken und Abgaben eintreiben, sehen ihre chinesischen Kollegen Schande und Tod des Ausländers viel lieber als Geld. Nirgendwo auf der Erde gibt es einen kürzeren Weg zum Himmel als in der indischen Stadt Varanasi am Ganges, und nicht zufällig fahren Horden von alten Frauen und Männern in Autobussen dorthin, um sich den Tod zu holen. Aber unter dem Himmel Lhasas in der Scheiße zu versinken und nicht einmal vorher die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt zu haben, das war zumindest ein Schritt im unpassenden Moment, und ich stieß beleidigt einen Schrei aus. Die pfiffigen chinesischen Militärs hatten den Flughafen in sage und schreibe 96 Kilometern Entfernung von Lhasa angelegt. Einer feindlichen Luftlandetruppe dürfte es nicht leicht fallen, die Stadt von den Chinesen zu befreien. Wenn sich tierische Laute der Kehle entringen, wenn unten der Urin herausläuft und nachts die Körpertemperatur sinkt, dann bedeutet das, ich werde im nächsten Leben ein Tier sein. Eine Seilwinde beförderte mich unter dem einmütigen Gelächter der tibetischen Verkäufer und Verkäuferinnen von Silbersachen an die Erdoberfläche – sie hatten allen Grund zur Belustigung.
    »Mit welcher Absicht sind Sie nach Tibet gekommen?«
    »Um die Wahrheit zu schreiben. Die Wahrheit aber ist, das einzige tibetische Wort, das ich gelernt habe, ist Momo , was auf Russisch Pelmeni bedeutet.«
    »Haben Sie Momo mit Yakfleisch probiert?«
    »Woher können Sie Russisch?«
    »Sie sind der erste Russe, dem ich bisher in meinem Leben begegnet bin. Und Sergej, wer ist der? Ihr Leibwächter?«
    »Er ist ein reumütiger russischer Geschäftsmann«, sagte ich. Sie blickte mir in die Augen. Noch nie im Leben hatte mir jemand so schamlos in die Augen geblickt.
    »Das war ein Anfall von Höhenkrankheit«, sagte sie.
    »Nein«, sagte ich. »Ich kann mich gut erinnern, wie ich mich an der Jauche verschluckt habe. Ich erinnere mich an den Strudel. Er zog mich in die Tiefe. Im Wasser schwammen lauter Kötel.«
    »Das war ein Anfall von Höhenkrankheit«, sagte Kelsang und setzte sich auf den Rand meines Bettes. »Die Höhenkrankheit entsteht beim Menschen ab 2450 Meter Höhe. Lhasa liegt 3650 Meter hoch. Selbst erfahrene, an große Höhen gewöhnte Bergsteiger sind gegen diese Krankheit nicht gefeit. Es ist unmöglich, sich an solche Höhen zu gewöhnen. Bemühen Sie sich, möglichst viel Wasser zu trinken, und lassen Sie den Alkohol weg! Haben Sie Schwindelgefühle?«
    Sergej betrat das Zimmer, um sich nach meiner Gesundheit zu erkundigen.
    »Die wollen hier irgendwie nicht zugeben, dass ich in einen Gully gefallen bin.«
    »Vielleicht haben sie Recht«, sagte der reumütige Geschäftsmann. »Woher sollen wir das schon wissen?«
    Kelsang lächelte ihm dankbar zu.
    »Was ist los, haben die Sie schon gekauft?«, wunderte ich mich.
    »Sie dürfen sich nicht aufregen«, bemerkte Sergej. »Ihr Zustand ist labil, und die Höhenkrankheit kann jeden Moment einen fatalen Ausgang nehmen. Nicht umsonst hat Ihre verstorbene Großmutter Sie in ihre Obhut genommen. Ich sehe, dass sie es sich in der Ecke da gemütlich gemacht hat.«
    »Ich glaube Ihnen erst«, sagte ich zu Sergej, »wenn Sie mir sagen, wie meine selige Großmutter geheißen hat.«
    »Anastassija Nikandrowna.«
    Ich setzte mich im Bett auf, spürte einen scharfen Schmerz im Bauch und ließ mich stöhnend

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