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de profundis

de profundis

Titel: de profundis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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ihren Ärmchen an den Körper drücken. Den Worten der Lehrerin war zu entnehmen, dass sie trotz allem Schule und Kinder liebte. Trotz aller Schwierigkeiten. Bei einer der Mamas flossen die Tränen. Sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, doch es gelang ihr nicht. Sie griff nach ihrer Handtasche und rannte geräuschvoll aus der Klasse hinaus. Die Leute blickten ihr nach, aber nicht alle. Einige verstanden nicht, was los war. Ein Mann stand auf und ging auf Zehenspitzen hinaus. Der liebe Großpapa, der immer mit dem Fahrrad unterwegs war. Er hatte ganz Europa auf seinem Drahtesel abgeklappert.
    Was machen wir denn nun mit der Abiturfeier?
    Es wäre gut, ein Elternkomitee zu gründen.
    Unsere Abiturfeiern können sehr interessant sein.
    Vorletztes Jahr haben wir ein ganzes Schiff gemietet und eine Nachtfahrt auf dem Fluss gemacht. Wirklich unvergesslich. Sie saß auf dem Treppchen vor der Datscha, den Kopf zwischen den Knien, mitten in der Nacht. Sie kotzte alles voll: die Schlappen, die Jacke, die offene Hose. Das mit dem Schiff ist natürlich nicht leicht zu organisieren. Es war einfach zufällig so, dass einer von den Vätern etwas mit der Flussschifffahrt zu tun hatte.
    Aber es muss ja nicht unbedingt ein Schiff sein.
    Geld müssen wir auf jeden Fall sammeln.
    Dafür wäre es gut, ein Elternkomitee zu gründen.
    Wer von Ihnen möchte sich daran beteiligen?
    Eine Frau in der letzten Bank hob die Hand. Sie hatte einen ganzen Berg zusammengekotzt.
    Sehr gut. Wer noch?
    Niemand hob mehr die Hand.
    Die Lehrerin wartete. Aus der Vogelperspektive ähnelt Prag einer Katze.
    Also, wenigstens zwei brauchen wir noch.
    Die Mamascha in der letzten Bank überlegte es sich noch mal anders und zog, überraschend für alle, ihre Kandidatur zurück.
    Also, überlegen Sie es sich. Wir haben noch Zeit.
    Die Vögel sangen in den höchsten Tönen. Es war ein heißer Aprilmorgen. Die Kotze verschwand auf wunderbare Weise. Ich traute meinen Augen nicht. Einige sahen die Lehrerin respektvoll an. Ein Vater guckte sogar leicht unterwürfig.
    Vielleicht machen ja diejenigen von Ihnen, die heute nicht gekommen sind, beim Elternkomitee mit? Nicht gekommen sind wahrscheinlich zehn bis zwölf Personen.
    Die Erinnerungen an die Abiturfeier bleiben einem fürs ganze Leben. Das wissen Sie selbst sehr gut.
    Also, wie sieht es aus? So ein Elternkomitee wird nicht allzu viel Arbeit machen. Wir treffen uns ein-, zwei Mal. Sie sind doch ein seltsames Völkchen, diese Franzosen.
    Genossen! Ich bitte Sie …
    Die Mamascha in der letzten Bank war wieder bereit, im Komitee mitzumachen. Sie war weder auf jugendlich getrimmt noch eine alte Frau. Irgendetwas dazwischen. Jetzt war sie schon felsenfest entschlossen mitzumachen. Sagte nicht mehr nein. Absolut felsenfest entschlossen. Aber die anderen zögerten, wollten nicht so recht, warteten auf irgendetwas. Sie guckten lauernd, streckten die Schnäuzchen vor. Listige, abwartende Schnäuzchen. Sie futterten alles ratzeputz weg und warteten auf Nachschub. Sie drangen in ihr Unterbewusstsein ein. Manche taten nur so, als seien sie anwesend.
    Es bestand jedoch eine gewisse Hoffnung, dass bis zum Ende der Versammlung noch zwei Personen mitmachten. Eine geringe Hoffnung natürlich, aber immerhin.

Der Bauchnabel
    Der Bauchnabel ist ein unverzichtbarer Bestandteil meines Organismus. Mein Absturz in den Gully vor den Augen der tibetischen Figurenverkäufer ereignete sich gleich nach meiner Ankunft, als ich aus dem amerikanischen Hotelkomplex heraustrat, sozusagen als Akt Nummer eins. Der Gullydeckel drehte sich unter meinen Füßen, und ich segelte ungehindert in die sich auftuende Öffnung hinein. Der Sturz in die Tiefe war vom Verlust meiner Sonnenbrille und meines Kamms, von starker Schweißabsonderung, weit aufgerissenen Augen und intensiver Abschürfung des lebendigen Organismus begleitet. Dreimal so glücklich wie Prshewalski, der Tibet, von Norden kommend, schließlich doch nicht erreichte, gelangte ich auf unredliche Weise dorthin, über das allzu spielzeughafte Kathmandu, wo an jedes fahrende Auto bunte Bänder mit leeren Bierdosen geknüpft sind. Kadakin, der russische Gesandte in Nepal, bemühte sich händeringend, mich von diesem Abenteuer abzubringen, und während ich durch den Kanalisationsschacht abwärts sauste, sah ich unter anderem auch das lebhafte Gesicht des Diplomaten mit dem früh ergrauten Haarkranz vor mir.
    Der Flug über den Himalaya hatte nicht mehr Zeit in Anspruch genommen als mein

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