Dead Beautiful - Deine Seele in mir
sind geschieden, deshalb sehe ich sie fast nie. Das war vor ein paar Jahren, wirklich schrecklich. Das Haus in Aspen hat meine Mutter gekriegt, das in Wyoming mein Vater und um den Rest streiten sie sich noch.« Sie verdrehte die Augen. »Oder vielmehr ihre Anwälte. Meine Eltern halten’s noch nicht mal aus, im gleichen Bundesstaat zu wohnen. Natürlich konnten sie sich auch nicht einigen, bei wem wir leben sollen. Und deshalb sind mein Bruder und ich hier. Deshalb, und natürlich weil praktisch unsere ganze Familie schon aufs Gottfried gegangen ist.« Sie lächelte. »Und jetzt weißt du alles über mich, falls du dich schon gefragt haben solltest.« Sie spähte in meinen geöffneten Koffer. »Das ist ein echt süßer Rock.«
Ich sah zu, wie sie sich in ihrer ganzen blonden Pracht über meine persönlichen Besitztümer beugte, mit sich und ihrer Herkunft völlig im Reinen.
»Danke«, sagte ich. »Der war von meiner Mom.«
»Sie hatte einen tollen Geschmack. Macht es dir was aus, wenn ich kurz reingucke?« Ohne eine Antwort abzuwarten, bückte sie sich und durchwühlte die restlichen Klamotten in meinem Koffer. »Ich hatte immer diese Wunschfantasie, dass ich in einer ganz normalen Familie aufwachse. Ein kleines, gemütliches Haus. Meine Eltern machen Pfannkuchen zum Frühstück und leihen sich Eier von den Nachbarn. Ich fahr mit dem Bus zur Schule. Ach, und natürlich habe ich einen Ferienjob. Das ist eine so romantische Vorstellung. Ich könnt kellnern und eine Schürze tragen und so weiter.«
Ich sah sie verwirrt an. »So romantisch ist das echt nicht. Der Bus war immer total überfüllt und meistens hat Kaugummi auf den Sitzen geklebt. Und wenn ich eins gehasst habe, dann die Ferienjobs. Allerdings hätte ich sonst nie den Typen kennengelernt, mit dem ich ausgegangen bin. Ich hab auf so einem Bauernmarkt gearbeitet und dort hat er mich angesprochen.«
Voller Ehrfurcht sah Eleanor zu mir auf. »Da hast du’s! Das ist romantisch. Erzähl mir alles.«
Ich musste lachen. Noch nie hatte ich jemanden getroffen, der von beschissenen Ferienjobs oder kleinen Häusern träumte.
»Lass uns noch mal von vorn anfangen«, sagte ich und streckte meine Hand aus. »Ich heiße Renée.«
Eleanor lächelte. »Freut mich.« Sie hob eine hellbrauneBluse mit Rüschen am Kragen hoch. »Die ist so was von retro. Kann ich sie mir ausborgen? Das sieht bestimmt super aus zu meinem neuen Rock.«
Ich musste wieder lachen. »Klar. Also, woher weißt du das alles über mich?«
»War nicht weiter schwer. Mein Bruder Brandon sitzt im Wächterkomitee. Er ist schon im Abschlussjahr und quasi der Liebling der Rektorin. Als ich von der Mitbewohnerin erfahren habe, hab ich ihn gebeten, in deine Akte zu schauen und mir ein paar Details zu liefern. Darf er eigentlich nicht, aber für mich tut er alles.«
Ganz so einfach klang es nicht. Es klang eher nach ziemlich viel Arbeit für ein paar Antworten, die sie auch ganz einfach von mir hätte bekommen können. Ich beobachtete, wie sie die Klamotten in meinem Koffer durchging und sich anhielt.
»Eleanor, warum ist denn deine alte Mitbewohnerin dieses Jahr nicht zurückgekommen?«
Sie lächelte mich verschmitzt an, als hätte sie nur auf diese Frage gewartet. »Das ist nicht so leicht zu beantworten.«
Drittes Kapitel
Das Erwachen
I hr Name war Cassandra Millet. Doch bevor ich mehr über Eleanors alte Mitbewohnerin in Erfahrung bringen konnte, wurden wir auf einmal von Glockengeläut unterbrochen. Eleanor wirkte plötzlich beunruhigt. »Schon sechs? Wir müssen los!«
»Wohin denn?«
»Zum Herbsterwachen natürlich. Beeil dich, wir sind spät dran.«
»Warte mal, was soll das denn sein, Herbsterwachen?«
Statt einer Antwort schnappte sich Eleanor eine Strickjacke. Ich tat es ihr nach und sie nahm mich beim Ellbogen und schob mich aus der Tür.
Eilig gingen wir über den Campus, vorbei am Verning-Theater, einem massiven Steinbau mit einer Front griechischer Säulen, und vorbei am Haus Horaz, dessen hohe, verdunkelte Fenster ausdruckslos in Richtung Berge starrten. Mit Mühe entzifferte ich die Inschrift über dem Eingang: C OGITO E RGO S UM . »Da findet der Unterricht statt«, erklärte Eleanor. Zuletzt kamen wir am Observatorium vorbei,einem gemauerten Turm in der Mitte des Campus, der als Sternwarte und zugleich als Labor diente. Die Sonne ging schon fast unter, als wir den Park erreichten. Leises Gemurmel erfüllte die Luft und wir gingen den Stimmen entgegen, bis wir auf die
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