Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dead Beautiful - Deine Seele in mir

Dead Beautiful - Deine Seele in mir

Titel: Dead Beautiful - Deine Seele in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Y Woon
Vom Netzwerk:
weiter aufzufallen, drückte ich meine Tasche an mich und suchte mir einen Platz im hinteren Teil des Zimmers.
    Unsere Lateinlehrerin war ein Schlachtschiff von einer Frau in einem weiten, formlosen Kleid und mit dicker Brille. In zittriger Schreibschrift war Professor Edith Lumbar an die Tafel geschrieben.
    Edith Lumbar. Das war die Frau, an die ich mich laut meinem Großvater wenden sollte, wenn ich jemals Hilfe brauchte. Mit einem Seufzen schloss ich die Augen und wünschte mir, ich hätte es mir nicht jetzt schon mit ihr verdorben.
    »Um da fortzufahren, wo wir unterbrochen wurden: In meinem Kurs herrschen einige Regeln. Es wird nicht in den Sitzen herumgelümmelt, lautet die erste.«
    Stühle quietschten auf dem Boden, als sich alle aufrecht hinsetzten.
    »Schüler des Lateinischen, die sich den feinen Aufbau der Sprache aneignen wollen, müssen in allen Bereichen des Lebens ihr Augenmerk auf größte Genauigkeit legen.«
    Sie begann, im Zimmer auf und ab zu spazieren. »Zweitens reden Sie nur, wenn ich Sie aufrufe.
    Und drittens, und dies ist der bei Weitem wichtigste Punkt, dürfen Sie niemals, unter keinen Umständen, die lateinische Sprache sprechen.«
    Wie sollten wir eine Sprache lernen, die wir gar nicht sprechen durften? Und warum sollten wir sie dann überhaupt lernen?
    »Wieso?«, platzte ich ohne groß nachzudenken heraus.
    Professor Lumbar drehte sich um und sah mich erstaunt an. »Haben Sie bei Regel zwei vielleicht nicht zugehört?«, fragte sie mich, obwohl sie ganz offensichtlich keine Antwort erwartete. »Wie heißen Sie?«
    »Renée Winters.«
    Sie sah mich einen Moment an und wiederholte dann: »Renée. Wiedergeboren . Ein alter Name, abgeleitet vom lateinischstämmigen und französischen Verbum naître, geboren werden , den Sie mit dem großen französischen Denker René Descartes gemeinsam haben. Auch wenn Sie offensichtlich seine Freude an der Diskussion teilen, beweist Ihr vorlautes Benehmen, dass es Ihnen an seiner Weisheit und Geduld fehlt.«
    Ich war noch dabei, diese Beleidigung zu verarbeiten, als sie fortfuhr.
    »Also, Renée, was genau ist für Sie unverständlich?« Ihr Tonfall war höflich, troff aber vor Sarkasmus. Im Zimmer war es so still, dass ich meinen Magen knurren hören konnte.
    Ich musste schlucken. »Ich hab mich … nur gefragt, wieso wir eine Sprache, die wir lernen sollen, nicht sprechen dürfen.«
    »Das ist eine interessante Frage. Möchte sich jemand dazu äußern?«
    Ein Junge aus der ersten Reihe hob seine Hand.
    »Ja bitte«, sagte Professor Lumbar. »Wie heißen Sie?«
    »Prem«, sagte er.
    »Prem, was meinen Sie dazu?«
    »Ist es, weil Latein eine tote Sprache ist?«
    »Latein wird schon seit Jahrhunderten als ›tot‹ bezeichnet. Trotzdem ist es ziemlich lebendig. Historisch gesehen ist Latein die Sprache der Elite. Nur die Besten konnten sie lesen, schreiben und vor allem sprechen. Unser Unterricht wird sich mit den Legenden um die Menschen befassen, die die lateinische Sprache zu ihrem Sprachrohr erkoren. Da es sich bei diesem Kurs um eine Einführung handelt, ist es wohl offensichtlich, dass keiner hier im Raum mit einer romanischen Sprache gesegnet wurde. Es wäre demnach ein Akt der Hybris, die Sprache laut sprechen zu wollen.
    Demjenigen, der seinen Geist schulen möchte, kann ich jedoch das Werkzeug an die Hand geben, das Unaussprechliche auszudrücken. Wie beschreibt man das flüchtigste Gefühl? Einen Geruch, den man seit seiner Kindheit nichtmehr wahrgenommen hat? Das überwältigende Glück, wenn man Zeuge der Geburt eines Lebewesens wird? Die unermessliche Trauer, die uns überfällt, wenn wir uns dem Tod gegenübersehen? Wir scheitern daran, einander diese vielschichtigen Gefühle mitzuteilen. Latein jedoch kann Empfindungen darstellen, von denen man nicht einmal wusste, dass man über sie verfügt.«
    Unsere Augen klebten an der Lehrerin. Mit einem Schlag war Latein interessant geworden. Von klein auf hatte ich mich in meinen Gedanken einsam gefühlt, sicher, dass niemand mein wirkliches, ganzes Ich kannte, noch nicht einmal meine Eltern. Und jetzt, wo sie tot waren, fühlte ich mich völlig alleine. Wie hätte ich einem anderen all das erklären sollen? Vielleicht war Latein die Antwort.
    Professor Lumbar ergriff ein Stück Kreide und begann, etwas an die Tafel zu kritzeln. Latinum: lingua mortuorum. Ich übertrug es in mein Heft.
    »Bitte schlagen Sie jetzt Ihre Bücher auf Seite zwölf auf«, sagte sie und ließ uns Konjugationen

Weitere Kostenlose Bücher