Dead Beautiful - Deine Seele in mir
wachsende Schülermenge. Einige Mädchen zeigten auf mich und flüsterten. Ich versuchte, sie nicht zu beachten, spürte aber, wie ich rot anlief. Meine Knie schmerzten, während Mrs Lynch um mich herumging; ihre braunen Clogs klackten auf dem Boden wie eine Stoppuhr. »Keine Strümpfe«, murmelte sie und zog das Ende ihres Zollstocks leicht über die Rückseite meiner Beine.
»Hemd hängt heraus«, fuhr sie fort. Ich zuckte zusammen und wartete darauf, dass sie mich schlug, aber stattdessen beugte sie sich hinab und hielt den Zollstock gegenmeinen Oberschenkel. Sie musterte meinen Rock und legte die Stirn in Falten. »Fünf Komma sieben Zentimeter oberhalb des Knies. Die Kleiderordnung schreibt vor, dass Röcke nicht kürzer sein dürfen als maximal fünf Zentimeter oberhalb des Knies.«
»Aber das ist noch nicht mal ein Zentimeter!«
»Trotzdem verstoßen Sie gegen die Kleiderordnung«, höhnte Mrs Lynch und entblößte eine Reihe gelblicher Zähnchen.
Ich funkelte sie an und stand auf, während ich an meinem Rock zerrte. Wie konnte man für so etwas nur bestraft werden?
»Sie werden auf Ihr Zimmer gehen und sich umziehen.«
»Aber ich muss in Philosophie –«
Sie ignorierte mich. »Und auf dem Weg werden Sie dem Büro der Rektorin einen Besuch abstatten.«
»Ich habe jetzt Unterricht!«
»Den werden Sie wohl verpassen«, sagte sie und schickte sich an zu gehen.
»Aber das ist mein erster Tag!«
Sie drehte sich zu mir um. »Junge Dame, es ist Ihr Glück, dass heute Ihr erster Tag ist. Sonst wäre die Strafe noch ganz anders ausgefallen.«
Ich hievte mich hoch und rieb mir gerade die Knie, als ich eine Frauenstimme hinter mir hörte. »Verzeihen Sie«, sagte sie zu Mrs Lynch. Die fuhr überrascht herum.
Die Frau war dünn und unscheinbar, mit glatten braunen Haaren und einem Leinenrock. Sie war im Alter meiner Mutter und hatte Lachfalten um die Augen. »Das ist eine meiner Schülerinnen. Ich kümmere mich selbst um sie.«
Ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen.
Mrs Lynch sah sie misstrauisch an. Ich tat es ihr nach.
»Ich begleite sie nur«, sagte die Frau und betrachtete mich, als würde sie mich kennen. »Sie ist neu hier.«
Mrs Lynch grunzte etwas zur Antwort und marschierte zurück zu ihrem Büro. Als sie verschwunden war, wandte sich die Frau an mich. »Kommen Sie.«
Die Menge in der Eingangshalle von Haus Horaz teilte sich. Hocherhobenen Hauptes ging ich hindurch und vermied jeden Blickkontakt, um nicht zu zeigen, wie gedemütigt ich mich fühlte.
Als wir draußen waren, hielt sie an und schaute kurz um sich. »Gehen Sie zurück ins Wohnheim und ziehen Sie sich um.«
»Was ist mit der Rektorin?«
»Wollen Sie wirklich zu ihr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das dachte ich mir.«
Ich wusste weder, wer sie war, noch, warum sie mir half. »Warum –«, wollte ich fragen, aber sie unterbrach mich.
»Lassen Sie sich nicht mehr mit der falschen Kleidung erwischen.«
Ich nickte und rannte zum Wohnheim. Ich wühlte mich durch die Kleider meiner Mutter, bis ich endlich einen züchtigeren Faltenrock gefunden hatte. Ich zog ihn an, zusammen mit einem Paar Strümpfe. Dann steckte ich meine Bluse hinein, schlüpfte in eine Strickjacke und stellte mich vor den Spiegel. Ich erkannte mich kaum wieder. Wenn Annie mich jetzt gesehen hätte, wäre sie glatt an mir vorbeigelaufen. Und trotzdem hatte mich die Frau, die micheben vor einem Besuch bei der Rektorin gerettet hatte, so angesehen, als würde sie mich kennen. Wer konnte sie nur sein? Seufzend fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar und steckte es mit der Haarspange meiner Mutter zurück.
Am Ende des Tages traf ich Nathaniel und gemeinsam gingen wir zum letzten Kurs, Rohwissenschaften. Er fand im Observatorium statt, dem hohen, spindelförmigen Gebäude in der Mitte des Schulgeländes. Auf dem Weg dorthin berichtete ich ihm, wie ich vor Latein in den falschen Kurs geplatzt war, und von Minnie, Mrs Lynch und der geheimnisvollen Frau, die sich eingeschaltet hatte.
»Klar«, sagte Nathaniel. Seine schlecht geknotete Krawatte war zu lang und klatschte gegen seine Brust, als er versuchte, gleichzeitig seine Bücher und mit mir Schritt zu halten. »Die Lynch liebt es, Leute am Boden zu sehen. Bei mir hat sie’s immer mit zu viel Gesichtshaar.« Er befühlte die drei oder vier einsamen Härchen, die an seinem Kinn sprossen. »Ich besitze noch nicht mal einen Rasierer!« Seine Stimme brach und er wurde rot. »Und mach dir das nächste Mal keine
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