Dead Beautiful - Deine Seele in mir
und Eleanors Verschwinden herzustellen.
Ich saß meinen Unterricht ab, ohne wirklich zuzuhören, und versuchte, meine Fantasie im Zaum zu halten. Irgendwo da draußen war Eleanor in Schwierigkeiten. Ich fühlte mich nutzlos und Professor Lumbars Vortrag über historische Deklinationsformen war kaum aufregend genug, mich davon abzulenken.
»Was kann uns Latein über uns selbst sagen?« Ihr riesiger Körper campierte in einem Zelt von einem Kleid. In ihrer großen, rechtsgeneigten Handschrift schrieb sie an die Tafel: Vivus eram.
»Es gibt eine frühe Form des Lateins, das Latinum Mortuorum heißt und nur in der Vergangenheitsform verwendet wird. Andere Zeiten hat es nicht. Man konnte nicht sagen ›Ich bin lebendig‹; nur ›Ich war lebendig‹. Es wurde von Kindern gesprochen, zumeist Waisen. Für sie existierten Begriffe wie Gegenwart oder Zukunft nicht. Stattdessen verbrachten sie ihr Leben damit, zurückzublicken. Im Grunde lebten sie in der Vergangenheit.«
Ich starrte auf die Tafel und schrieb den Satz ab. Die Vergangenheit abzuschütteln war schwer. Erst der Tod meiner Eltern, jetzt Eleanors Verschwinden. Vielleicht war das nur ein Versuch, meine Schuldgefühle gegenüber meinenEltern zu lindern; als ob sie zurückkommen würden, wenn ich Eleanor fände. Wie konnte ich nicht von der Vergangenheit verfolgt werden, wenn sie mir an jeder Ecke auflauerte? Ich war lebendig.
An diesem Abend rief ich Annie an und erzählte ihr von Eleanor.
»Warum gehst du nicht zur Polizei?«, fragte sie.
»Die waren schon hier. Außerdem, was sollte ich schon sagen? Dass jemand Leute umbringt, indem er ihnen Herzanfälle verpasst, und dass Eleanor wahrscheinlich das letzte Opfer war?«
»Klingt wirklich reichlich lächerlich.«
»Sag ich doch. Und Beweise hab ich auch keine.«
»Hast du’s schon jemandem erzählt?«
»Nur Nathaniel und Dante.«
»Du redest noch mit diesem Typen?«, fragte sie.
»Mit Dante? Na klar tu ich das«, verteidigte ich mich. »Warum sollte ich nicht mit ihm reden?«
»Als du das letzte Mal von ihm erzählt hast, hast du noch geglaubt, er ist so eine Art Mutant.«
»Ach ja …« Als ich mir unser letztes Gespräch in Erinnerung rief, war es mir fast peinlich, wie sauer ich auf Annie gewesen war. »Tut mir leid, An«, sagte ich. »Da sind diese ganzen Sachen passiert, die ich nicht verstanden habe, und es erschien mir alles so unfair.«
Sie klang skeptisch. »Und jetzt ergibt alles Sinn?«
Ich musste lachen. »Ganz bestimmt nicht. Ich glaube, ich habe mich einfach verändert. Ich mag Dante. Ich mag ihn sogar sehr.« Ich wollte ihr alles über ihn erzählen; ich wollte ihr beschreiben, wie er mich ansah, wie seine Stimmeklang, wenn er im Unterricht etwas sagte, jedes Wort ein winziger Fetzen eines riesigen Liebesbriefs, der nur an mich gerichtet war. Aber mir war klar, dass sie das nicht verstehen würde.
Nachdem wir aufgelegt hatten, saß ich in meinem Zimmer herum und hörte durch die Wände das gedämpfte Lachen der Mädchen. Wie konnten sie noch so fröhlich sein, wenn eine ihrer Freundinnen verschwunden war? Da ich nichts Besseres zu tun hatte, beschloss ich, mein Zimmer aufzuräumen. Der Dschungel unter meinem Bett war selbst bei freundlichster Betrachtung nur undurchdringlich zu nennen. Papiere und Bücher waren auf dem Boden zu Türmen aufgehäuft, dazwischen überall Wollmäuse. Als ich begann, die Stapel durchzugehen, entdeckte ich darunter meinen Kauf aus der Buchhandlung Lazarus. Das Buch lag unter einem Stapel Ordner und Ringbücher. Ich zog es hervor und wischte den Einband ab. Attica Falls. Sein elfenbeinfarbener Leineneinband begann sich an den Ecken aufzulösen. »Der Gottfried-Fluch«, dachte ich. Ich hatte so viel Zeit damit zugebracht, mich um die Zusammenhänge zwischen dem Fluch, meinen Eltern, Benjamin und Cassandra zu sorgen, dass ich darüber vollständig den einzigen Teil des Artikels vergessen hatte, der sich wirklich auf meine Familie bezog. Ich stand auf und ging im Raum auf und ab, bis ich auf einmal den Hörer in der Hand hielt und die Nummer meines Großvaters wählte. Dustin hob ab.
»Haus Winters«, kam seine kräftige Stimme durch den Hörer.
»Hallo, Dustin«, sagte ich leise und fühlte mich auf einmal wie ein kleines Mädchen. »Ist mein –?«
Als Dustin meine Stimme hörte, fiel er mir ins Wort. »Miss Winters?«, rief er freundlich. »Ich habe mich schon gefragt, wann wir wieder von Ihnen hören. Rufen Sie an wegen den Vorbereitungen für die
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