Dead End: Thriller (German Edition)
doch keine Träume?
Evi holte tief Luft, als wappne sie sich für eine gewaltige Anstrengung, dann schüttelte sie den Kopf. »Morgen können wir es mit einer bestimmten Form von Hypnose versuchen und sehen, ob wir irgendwelche Erinnerungen freisetzen können, wenn sie dazu in der Lage ist und ihre Eltern nichts dagegen haben. Das ist aber keine verlässliche Methode, und normalerweise würde ich so etwas nicht versuchen, ehe sie nicht sehr viel mehr Zeit gehabt hat, sich zu erholen.«
»Und wie geht es Ihnen? Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht nach Hause gefahren.«
Evi brachte ein Lächeln zustande; sie war sehr viel robuster, als sie aussah. »Mir geht’s viel besser, vielen Dank«, erwiderte sie und schaute schnell nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass wir allein auf dem Flur waren. »Und ich habe mit einem geborgten Laptop ein bisschen herumgestöbert. Nick, Meg und Scott waren alle auf dem Trinity College, als sie hier studiert haben, also dachte ich, da fange ich an. In dem besagten Studienjahr gab es zwanzig Medizinstudenten im Trinity, und die meisten davon habe ich ausfindig machen können.«
»Mann, das ist ja super.«
»Oh, das war nicht weiter schwer. Es gibt Ehemaligenvereine, die jedes Jahr Adressverzeichnisse herausgeben, Berufsverbände, an die man sich wenden kann. Jedenfalls, vier von den zwanzig arbeiten jetzt im Ausland, zwei haben einen anderen Berufsweg eingeschlagen und einer ist vor ein paar Jahren gestorben. Die anderen sind entweder niedergelassene Ärzte, arbeiten in Kliniken oder unterrichten an anderen Unis. Sie sind über ganz Großbritannien verstreut, der Nächste sitzt in Stevenage.«
»Dann können wir die wohl ausschließen«, stellte ich fest.
Eine Gruppe junger Ärzte in frischer grüner OP -Kluft kam um die Ecke. Wir warteten, bis sie vorbeigegangen waren.
»Der Einzige, den ich nicht finden konnte, war ein gewisser Iestyn Thomas. Er hat Cambridge vor dem Examen verlassen und scheint spurlos verschwunden zu sein. Er müsste jetzt sechsunddreißig sein, genau wie Meg und Nick.«
»So ein dünner Strebertyp«, sagte ich. »Alle fanden ihn ein bisschen seltsam.«
Evis Augen wurden schmal. »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob ich ihm je begegnet bin. Wieso sagen Sie das?«
»Nick hat ihn erwähnt«, antwortete ich und erzählte Evi schnell die Geschichte von dem Teenager, der den Leichnam seines Vaters gefunden und dann einen Schulkameraden im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode schikaniert hatte.
»Aber Thomas, wenn er’s denn war, hat da doch von jemand anderem geredet«, erinnerte Evi, als ich geendet hatte. »Nicht von sich selbst.«
»Angeblich.«
»Lohnt es sich, das zu überprüfen?«
»Unbedingt.«
Wir brauchten nicht lange. Wir gingen in die Besucher-Cafeteria, bestellten uns Kaffee und Sandwiches und suchten uns einen ruhigen Tisch, wo wir uns mit Evis geliehenem Laptop ins WLAN der Klinik einloggten.
Eine überregionale Zeitung hatte kurz über den Vorfall berichtet und bestätigte, was ich bereits vermutet hatte, dass die Familie aus Wales war. Danach bedurfte es nur noch einer Suche in diversen walisischen Zeitungen, um sie zu finden. Die Website AberystwythOnline hatte alte Artikel archiviert, und das Geschehen war recht umfänglich abgehandelt worden. Die Familie Thomas hatte in einem alten Haus nicht weit von Aberystwyth an der Westküste von Wales gewohnt. Beide Eltern waren an der Universität tätig gewesen, bis der Vater sich mit Ende vierzig aus gesundheitlichen Gründen zur Ruhe setzen musste.
»Was ist Fibromyalgie?«, fragte ich Evi.
»Eine degenerative Muskelerkrankung«, antwortete sie. »Kommt bei Frauen häufiger vor, aber Männer kriegen das auch. Ich hatte mal eine Patientin, die daran gelitten hat. Die habe ich wegen Depressionen behandelt. Fibromyalgie kann sehr schmerzhaft sein und den Betroffenen sehr schwächen.«
Eines frühen Mittwochmorgens, als seine Frau nicht zu Hause gewesen war (der Artikel deutete an, dass sie eine Affäre mit einem Arbeitskollegen gehabt hätte), hatte Bryn Thomas eine geladene Schrotflinte mit in sein Arbeitszimmer genommen und abgedrückt. Seine dreijährige Tochter, die normalerweise immer als Erste auf war, hatte ihn kurz danach gefunden. Drei Stunden später war sein halbwüchsiger Sohn heruntergekommen.
»Das Foto ist keine große Hilfe, nicht wahr?«, bemerkte ich und betrachtete das unscharfe, von Weitem aufgenommene Bild, auf dem die Mutter und die beiden Kinder die
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