Dead Man's Song
eine Nummer, wartete, lauschte und sagte dann: »Mr. Alexander, bitte. Cynthia Keating.« Sie wartete wieder. »Todd«, sagte sie dann, »die Polizei ist hier. Was soll ich tun?« Sie lauschte wieder, nickte, lauschte weiter und sagte schließlich: »Danke, Todd, wir sprechen uns in Kürze«, und legte auf. »Gentlemen«, sagte sie dann, »solange Sie keinen Haftbefehl für mich haben, rät mein Anwalt, daß Sie lieber gehen sollen.«
Es hatte etwas Beruhigendes an sich, allein in der Wohnung der jungen Toten zu sein. Zuerst war da die Stille. In dieser Stadt ließ sich ein Ort der Stille und des Friedens normalerweise nicht leicht finden. Ständig heulten Sirenen, Tag und Nacht, Polizei oder Krankenwagen. Dann die Autohupen, vorwiegend Taxis, Einwanderer aus Indien oder Pakistan standen förmlich auf ihren Hupen, weil sie sich daran erinnerten, wie schnell ihre Kamele durch den Wüstensand rannten, wo es keine Verkehrsampeln gab. Diese Stadt war die lauteste verdammte Stadt im gesamten Universum. Ollie zog all dem die Stille in der Wohnung des toten Mädchens vor.
Manchmal glaubte er, wenn er lange genug in der Wohnung eines Toten ausharrte, könnte er die Schwingungen des Mörders auffangen. Irgendwie in seine Haut schlüpfen. Er hatte einmal eine Geschichte gelesen - er las höchst ungern -, in der von der Theorie die Rede war, daß das Bild des Mörders einer Person auf den Augäpfeln, der Retina oder wo auch immer zurückblieb. Totaler Quatsch. Aber die Stille in der Wohnung des Opfers war beinahe physisch greifbar, und er glaubte tatsächlich, wenn er lange genug dort in der Stille blieb, würden die Schwingungen des Killers in seine Knochen eindringen, obgleich ihm dies - ehrlich gesagt - noch nie passiert war. Nichtsdestoweniger stand er jetzt stocksteif am Fußende des Bettes der Toten, stellte sich vor, wie er sie das erste Mal auf dem Küchenfußboden gesehen hatte, das Messer in der Brust, versuchte zu empfinden, was der Mörder empfunden hatte, während er auf sie einstach, und bemühte sich, in seine Haut zu schlüpfen. Nichts geschah. Ollie seufzte, furzte und begann, Althea Clearys Wohnung zu durchsuchen.
Was er nicht zu finden hoffte, waren die Namen ihrer Eltern. Er wollte sie nicht anrufen müssen, um ihnen mitzuteilen, daß ihre Tochter tot war. Darin war er nicht sehr gut. Für Ollie war jemand, der gestorben war, tot, und das war’s. Man lief nicht herum und rang die Hände oder riß sich die Haare aus. Ihm fiel kein einziger Toter ein, den er vermißte, seine eigene Mutter und seinen eigenen Vater eingeschlossen. Er glaubte, wenn seine Schwester Isabelle sterben würde, würde er sie ein wenig vermissen, aber nicht so sehr, um bei ihrer Beerdigung aufzustehen und ein paar Worte über sie zu sagen, denn ganz ehrlich, ihm fiel nichts ein, was er über sie erzählen könnte, sei sie nun tot oder lebendig. Wie die meisten lebenden Menschen war Isabelle Weeks eine Nervensäge. Sie hatte ihn einmal beschimpft, er wäre ein Charakterschwein. Er riet ihr daraufhin, leck mich am Arsch, Mädchen.
Er hatte bereits das Adreßbuch und den Terminkalender des toten Mädchens durchgeblättert und nirgendwo eine Eintragung für jemanden namens Cleary gefunden. Es gab ein paar Namen von Leuten in Montana, was weder Ohio noch Idaho oder Iowa war, wie der Hausmeister vermutet hatte, aber es waren keine Clearys, und er hatte nicht die Absicht, jemanden in Montana anzurufen, nur um herauszufinden, ob der Betreffende mit einem toten schwarzen Mädchen verwandt war, von dem er diesen Leuten am liebsten sowieso nichts erzählen würde. Ihr Terminkalender war auch keine große Hilfe. Sie war vermutlich noch nicht allzu lange in der Stadt gewesen, was vielleicht eine Erklärung dafür war, weshalb sie die ganze Zeit Cappuccino mit einer Frau aus dem Stockwerk über ihr trank, die Klavierstunden gab. Ollie würde sie anrufen müssen. Night and Day, dachte er. Und vielleicht Satisfaction, was ebenfalls einer seiner Lieblingssongs war.
Er ging jetzt an die Kommode der jungen Frau und öffnete die oberste Schublade auf der Suche nach irgendwas, er hatte keine Ahnung, wonach genau, das ihm etwas über sie verriet oder darüber, wer in der Nacht, als sie gestorben war, bei ihr gewesen war. Es gab Cops, die gingen genau nach dem Lehrbuch vor, hörten sich zuerst in der Nachbarschaft um, fragten Leroy und Luis, Carmen und Ciarisse, ob sie irgend jemanden in die Wohnung hereingehen oder herauskommen gesehen hatten. Aber
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