Dead Man's Song
vielleicht noch erinnern werden, wurde »Jennys Zimmer« erstmals 1927 als Vehikel für Jenny Corbin inszeniert, eine populäre Musicaldarstellerin der damaligen Zeit. Das Musical traf bei der Kritik auf nur wenig Gegenliebe und verschwand schon nach einem Monat wieder vom Spielplan. Mr. Zimmer ist überzeugt, daß dem Stück diesmal ein solches Schicksal nicht beschieden sein wird. »Ich habe großen Aufwand betrieben, die Rechte zu erwerben«, sagte er. »Die ursprünglichen Copyright-Inhaber sind alle verstorben, und es ging im wesentlichen darum, all jene zu finden, auf die die Rechte übergegangen sind. Einen Rechteinhaber fanden wir in London, einen zweiten in Tel Aviv, einen dritten in Los Angeles.« Die Suche fand vor fünf Tagen ihr glückliches Ende, als der letzte Rechtenachfolger, eine Frau namens Cynthia Keating, den Vertrag unterschrieb und …
Und Carella spuckte einen Mundvoll Kaffee über den Tisch.
Er fand einen Eintrag für eine Firma namens Zimmer Theatrical in der Stadt auf der Stern und rief um kurz nach neun dort an. Eine Frau teilte ihm mit, Mr. Zimmer sei den ganzen Tag mit Vorsprechterminen beschäftigt, und als Carella ihr erklärte, daß er Detective sei und in einem Mordfall ermittele - das Zauberwort -, gab sie ihm die Adresse der Octagon Theater Spaces und informierte ihn, daß dort die Vorsprechproben stattfänden. Sie wisse jedoch nicht, in welchem Studio. »Sie sehen es gar nicht gern, wenn sie gestört werden«, fügte sie unaufgefordert hinzu.
Octagon Theater Spaces war ein sechsstöckiges Gebäude in einem Teil der Stadt namens King’s Road, nach dem berühmten Viertel in London. Von einer großen Ähnlichkeit konnte allerdings keine Rede sein. Der eigentliche Name der Straße lautete Kenney Road, eine verkehrsreiche Durchgangsstraße, die mit Möbelläden, Elektrogeschäften, Autowerkstätten, einer Werkstatt für die Lastwagen der Stadtwerke und vereinzelt wiederaufgebauten und renovierten Fabrikgebäuden wie dem Octagon und seinem Zwillingsbau, Theater Five, gesäumt war. Es war ein achtstöckiger Bau, der in großzügige Probenräume aufgeteilt war. Eine Empfangsdame informierte sie, daß sich auf jeder Etage sechs Studios befanden. In einigen wurde zur Zeit geprobt. In anderen wurden Vorsprechproben abgehalten. Die Vorsprechproben für Jennys Zimmer fanden in Studio Vier im zweiten Stock statt.
Ein altersschwacher Fahrstuhl aus den Tagen, als das Gebäude noch eine Fabrik beherbergte, brachte sie in die zweite Etage, in der sie in eine große Eingangshalle gelangten, deren eine Wand mit Münzfernsprechern bestückt war. Halblautes geschäftiges Gemurmel hing in der Luft. Gutaussehende Männer und Frauen - das gehörte schließlich zu ihrem Beruf - grüßten einander freundlich. Jeder schien jeden zu kennen. Schauspieler mit Textbüchern, Tänzer und Tänzerinnen in Trikots und Legwarmers eilten zwischen den Telefonen und Probensälen, den Fahrstühlen und Fluren, den Pausenräumen und Vorsprechstudios hin und her. Sie hatten nur flüchtige Blicke für Carella und Brown, erkannten aber sofort, daß sie keine Schauspieler waren, ohne jedoch auf den Grund ihrer Anwesenheit schließen zu können.
Brown hatte eigentlich nicht damit gerechnet, heute unterwegs zu sein. Er trug Bluejeans, einen Skipullover mit Rentiermuster, darüber einen grünen Skianorak und auf dem Kopf eine blaue Wollmütze, die er bis über die Ohren gezogen hatte. Er sah geradezu spießig aus. Carella wäre gut als Gasmann durchgegangen. Er trug einen dicken Wintermantel über einem braunen Pullover und einer grauen Cordhose. Keinen Hut, obgleich seine Mutter ihn ständig warnte, daß er am ganzen Leib frieren würde, wenn sein Kopf Kälte bekam. Beide Männer trugen mit Wolle gefütterte Bean-Stiefel. Während sie durch den Korridor schlenderten und Studio Vier suchten, rief ein Mädchen in Jeans und Trikotoberteil ihnen ein fröhliches »Hi!« zu, lächelte und tänzelte an ihnen vorbei.
Eine Tür mit einer Milchglasscheibe im oberen Teil trug die Aufschrift STUDIO VIER. Sie führte in einen kleinen Warteraum, möbliert mit Klappstühlen, auf denen junge Männer und Frauen in Straßenkleidung saßen. Sie alle waren in Blätter vertieft, die, wie Carella annahm, Fotokopien des Textbuchs waren. Ein aufgeregter junger Mann mit Brille und einem Pullunder mit V-Ausschnitt über einem apfelgrünen Oberhemd fragte Carella, ob er wegen Jenny gekommen sei. Carella zeigte ihm seine Dienstmarke und
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