Dead Man's Song
entging, was er sagte. Er wiederholte es und bediente sich der Zeichensprache.
»Es tut mir leid.«
Nur Babyboomer in den späten Vierzigern meinten, daß Lieben bedeutete, sich niemals entschuldigen zu müssen. Jeder andere wußte, daß, wenn man jemanden aufrichtig liebte und den Betreffenden verletzt hatte, man sich bei ihm entschuldigen mußte - aber man brauchte es nur einmal zu sagen. Man brauchte nicht auf Hände und Knie hinunterzugehen und für den Rest seines Lebens um Vergebung bitten, nicht, wenn der Betreffende einem glaubte. Man sagte es nur einmal. »Es tut mir leid.« Es sei denn, man hatte eine Ehefrau, die ohne Gehör geboren worden war und die Hände nicht gesehen hatte, weil sie einem halb den Rücken zuwandte. In diesem Fall mußte man es wiederholen. »Es tut mir leid.« Und diesmal hörte sie es und nickte und ergriff eine der beiden Hände und drückte sie und nickte noch einmal.
Sie ließen das Licht an.
Sie kam in seine Arme, auf sein Kopfkissen, und er küßte ihren Scheitel und drückte sie an sich und erklärte ihr, nicht wegen seines dämlichen Onkels Dom habe er an diesem kalten Thanksgiving im Haus seiner Mutter zuviel getrunken, sondern wegen dem alten Knaben, der an einem Badezimmerhaken gehangen hatte, und wegen Danny Gimp, der in dieser Pizzeria erschossen worden war, und wegen dem Mädchen, das man in Fat Ollies Revier erstochen aufgefunden hatte. Sie alle sorgten dafür, daß er sich so verdammt wertlos vorkam. Plötzlich war es so gewesen, als ob alle Fälle, die er je abgeschlossen hatte, auf einmal aufgeplatzt waren. Sie explodierten zu einem dreifachen Feuerwerk mit sprühenden weißglühenden Funken in der Nacht, ein einzelner brutaler Fall, in dem alles miteinander zusammenzuhängen schien, was aber nicht zutraf. Und zu alledem war dieser blöde Onkel Dom wahrscheinlich wirklich der Vollstrecker eines kleinen Provinzganoven namens Vinnie Pineapples gewesen, ein fettes Scheusal mit größeren Brüsten, als die meisten Frauen sie hatten.
Teddy hörte sich an, was er zu erzählen hatte. Dabei vollführten ihre Augen den magischen Trick, seine sich bewegenden Finger und seine Lippen gleichzeitig zu beobachten, und dann erzählte sie ihm, wie sie selbst sich zu Beginn der Ferien so wertlos vorkam, weil so viele Geschenke gekauft werden mußten, vor allem in diesem Jahr, wo sie knapp bei Kasse waren wegen der Ratenzahlungen für den neuen Wagen. Sie wollte den Job als Einpackhilfe an der Kasse im Supermarkt nicht annehmen, aber es gab nicht viele potentielle Arbeitgeber, die jemanden im Büro duldeten, der behindert war, auch wenn sie stenografieren und achtzig Worte in der Minute tippen konnte und Word und Quicken beherrschte und bestens organisiert war, frag nur die Zwillinge. Daher mußte er bei ihr manchmal Nachsicht üben, wenn sie mürrisch im Haus herumsaß. Es kam eben häufig vor, daß sie das Gefühl hatte, für ihn und die Kinder und nicht einmal für sich selbst genug zu tun. Und Vinnie Pineapples hatte wahrscheinlich wirklich größere Brüste als sie.
Während die Kinder in ihren Zimmern am Ende der Diele schliefen und das Haus so still war wie ihre eigene stumme Welt, trösteten sie einander im Dunkel der Nacht.
Nach einer Weile schlief Teddy ein.
Carella lag den größten Teil der Nacht wach neben ihr.
Als vom Glauben abgefallener Katholik - das letzte Mal war er in einer Kirche gewesen, als er den Mord an einem Priester untersuchte, der während des Abendgebets erschlagen worden war - hätte Carella einen Rest religiöser Inbrunst während der Weihnachtszeit empfinden müssen, aber statt dessen empfand er nur Schuld. Der Thanksgiving-Tag markierte das Ende eines vollen Monats, seit Andrew Haie ermordet worden war. Der Anfang der Weihnachtszeit am folgenden Tag hätte den Beginn eines einen Monat langen Festes anzeigen sollen, das erst endete, wenn am Boxing Day das letzte Weihnachtslied gesungen und der letzte Eierpunsch getrunken war. Statt dessen erinnerte er ihn daran, daß der Fall noch immer ungelöst war. Carella fragte sich, ob Fat Ollie Weeks, ungefähr anderthalb Kilometer stadtauswärts entfernt, die gleiche Hilflosigkeit und Trauer empfand. Fast hätte er ihn angerufen. Statt dessen wühlte er sich durch ein Arbeitspensum, das von Tag zu Tag erdrückender wurde. Ein wenig Trost schenkte ihm die Tatsache, daß die Kinder die Weihnachtszeit viel intensiver genossen als er. Meyer war ähnlich deprimiert.
Als Jude in einem christlichen Land
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