Deadline - Rache, wem Rache gebuehrt
bitte an …« Der gleiche Mist, den sie sich seit zehn Jahren immer wieder anhören musste. Nick, der Bruder ihres Vaters, war ganz in Ordnung; irgendwie mochte sie ihn, aber was seine Frau betraf, war sie sich nicht sicher, das geläuterte unartige Mädchen oder so. Cissy hatte versucht, bei ihnen in ihrem Kuhdorf mitten im Nirgendwo an der Küste von Oregon zu leben, dann aber so schnell wie möglich das Weite gesucht. Es war so langweilig dort! Sie begab sich schleunigst wieder nach Hause und wohnte die letzten paar Monate vor ihrem Highschool-Abschluss bei ihrer Großmutter. Danach zog sie nach Südkalifornien und besuchte dort die Uni. Onkel Nick, seine Frau und sogar ihr kleiner Bruder waren in Ordnung, aber sie waren nicht das, was sie als ihre engste Familie betrachtete.
Wie Jack?, höhnte ihre innere Stimme. Er ist deine engste Familie, nicht wahr? Oder sollte es zumindest sein.
Es war schon ein bisschen traurig, fand sie, als sie, immer noch Nick am Handy lauschend, den Hügel hinunterfuhr. Nicht einmal ihrem Bruder fühlte sie sich sonderlich nahe, der offenbar dort, am Ende der Welt, prima gedieh. Onkel Nick flog jede zweite Woche nach San Francisco, denn er hatte immer noch seine Finger im Familienunternehmen, doch meistens gelang es Cissy, wenn er auftauchte, sich vor irgendwelchen »Familientreffen« zu drücken. Sie konnte an diesem Glückliche-Familie-Spiel einfach nicht teilnehmen. Nicht, solange die Verbrechen ihrer Mutter über allem hingen wie ein übler Geruch, selbst zu der Zeit noch, als sie im Gefängnis saß.
Was jetzt nicht mehr der Fall war.
»Da dachten wir uns, vielleicht brauchst du uns jetzt. Wir wissen ja, dass du Jack und Beejay hast, meinten aber, ach, zum Kuckuck, du weißt schon.«
»Ich komme zurecht, Nick«, versicherte Cissy, genauso wie vor ein paar Tagen, als er wegen Marla angerufen hatte. Doch in ihren Augen brannten Tränen. Sie hatte ihrem Onkel noch nichts von der bevorstehenden Scheidung gesagt, wollte nicht, dass er oder seine Frau sich einmischten, wollte ihre Meinung dazu nicht hören. »Ich bin inzwischen erwachsen. Ich sollte wohl eher dir mein Beileid aussprechen. Schließlich war Gran deine Mutter.«
Er zögerte sekundenlang, was Bände über sein Verhältnis zu seiner Mutter sprach. »Ja, das war sie wohl.«
»Hör zu, die Anwälte und alle anderen werden sich bestimmt mit dir in Verbindung setzen. Ich bin gerade im Auto unterwegs und erwarte einen wichtigen Anruf.«
»Okay, Cissy. Pass auf dich auf.«
Ihre Kehle schnürte sich wieder zu. »Du auch, und grüße James von mir.« Sie beendete das Gespräch mit leisen Gewissensbissen. Der wichtige Anruf war erlogen, aber sie wollte es nicht und konnte es nicht gebrauchen, dass Onkel Nick und seine Frau sich in ihre Angelegenheiten einmischten.
Wieder klingelte das Handy, und diesmal sah sie zuerst nach der Nummer. Ihre Freundin Tracy. Aus Highschool-Zeiten. O prima … Die Neuigkeiten über ihre Großmutter und ihre Mutter hatten sich herumgesprochen. Sie nahm das Gespräch nicht an. War noch nicht bereit für den Ansturm. Tracy war wahrscheinlich nur die Erste von vielen.
Bevor sie nach Hause fuhr, hielt sie bei Joltz, dem nahe gelegenen Café, wo sie sich manchmal mit ihrem Laptop auf ein paar Stunden ungestörter Arbeit niederließ. Sie stellte den Wagen an einer Parkuhr ab, die noch nicht abgelaufen war.
Das Café Joltz hatte Tische, Sofas und freien W-Lan-Zugang zu bieten, und an manchen Tagen arbeitete Cissy dort einige Stunden, umgeben vom warmen Duft frisch gerösteten Kaffees, leisem Stimmengesumm und dem Blubbern der Espressomaschine. Gelegentliches Gelächter oder das Sirren der Kaffeemühle störten sie nicht. Manchmal bot ihr der kleine Tisch, den sie als Arbeitsplatz nutzte, Erholung vom Büro, in dem sie eine kleine, enge Zelle mit drei weiteren freiberuflichen Journalisten teilte, oder von zu Hause, wo sie durch die Anwesenheit ihres Babys stets abgelenkt war. Hier, in relativer Anonymität, fiel ihr die Arbeit erstaunlich leicht, während sie Kaffee trank oder sogar aus dem Angebot von Sandwiches und Salaten am Imbisstresen ein Mittagessen auswählte.
»Das Übliche?«, fragte eine der Serviererinnen. »Fettfreier doppelter Mokka mit Schlagsahne?«
»Das bin ich mir schuldig«, antwortete Cissy und nahm sich vor, zu Hause mal wieder auf ihren im Gästezimmer versteckten Hometrainer zu steigen.
»Genau.«
Die Leute, die hinter dem Tresen arbeiteten, trugen keine Namensschildchen,
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