Dear Germany - Dear Germany - Life without a top sheet
hat sich ihre Begeisterung für Nussknacker und Räuchermännchen mittlerweile etwas gelegt.
Ich bin froh, dass ich deshalb nicht mehr ständig zwischen meiner Mutter und den Budenverkäufern übersetzen muss, während hinter uns zahlreiche Menschen darauf warten, endlich an der Reihe zu sein.
»Carol, kannst du mal fragen, was die Figur dort hinten darstellen soll? Ist das ein Lehrer? Oder vielleicht ein Postbote?«
»Der Verkäufer sagt, das soll ein alter Schulmeister sein, Mom.«
»Okay. Und was ist mit der Figur dort drüben, die sich hinter der alten Großmutter versteckt?«
»Was soll damit sein, Mom? Möchtest du sie kaufen?«
»Nein, ich will nur wissen, was das sein soll.«
»Mom, hinter uns steht eine Riesenschlange!«
»Ja, ich weiß, aber schau doch mal, wie niedlich, ist das dort nicht ein weiblicher Nikolaus? Sieht sie nicht putzig aus?«
»Ja, Mom, soll ich dem Verkäufer sagen, dass du sie haben möchtest?«
»Hm, ich weiß nicht, was meinst du? Soll ich sie für Florence mitnehmen, oder soll ich ihr doch lieber den Schulmeister schenken?«
»Mom, ich weiß es beim besten Willen nicht. Entscheide dich einfach für eine. Ich bin sicher, dass Florence sich darüber freuen wird.«
»Okay. Kannst du mal fragen, wie viel der Schulmeister kostet? – Meinst du, ich sollte für Mary auch eine Figur kaufen, um ihr eine Freude zu machen?«
»Keine Ahnung, Mom, aber entscheide dich endlich. Bitte!«
»Die Figur dort drüben, ist das ein Schuster? Frag mal, ob es den nur auf einem Schemel gibt oder vielleicht auch auf einer Sitzbank.«
An diesem Punkt bin ich reif für einen Glühwein. Unter der Woche, wenn die Weihnachtsmärkte nicht so überfüllt sind, kann man solche Dinge in Ruhe fragen, aber am Wochenende fasst man sich beim Einkauf besser kurz. Dann ist es oft so voll, dass ich mir schnell wie ein Stück Vieh vorkomme, das blindlings von der Herde mitgeschleift wird.
Da die Nussknacker- und Räuchermännchenbuden mittlerweile etwas von ihrem Reiz eingebüßt haben, suchen meine Mutter und ich immer den erstbesten Reibekuchenstand auf. Reibekuchen gehören zu den Dingen, auf die sich meine Mutter das ganze Jahr über freut. Sie kann es nach ihrer Ankunft in Deutschland jedes Mal kaum erwarten, ihren Heißhunger zu stillen. Ich muss zugeben, auch ich kann Reibekuchen nicht widerstehen.
Trotzdem konnte ich es kaum fassen, dass meine Mutter – inzwischen ist sie siebzig – bei ihrem letzten Besuch mit einer Art Businessplan für einen Reibekuchenstand in Minnesota aufkreuzte.
»Carol«, sagte sie enthusiastisch, »deine Schwester Mary und ich haben überlegt, dass wir im kommenden Jahr bei der großen Minnesota-Messe eine Reibekuchenbude aufmachen sollten. Alle werden diese Kartoffeldinger lieben, ich brauche bloß noch ein gutes Rezept.«
Schon begann sie zu erklären, wie viele tausend Reibekuchen sie verkaufen wollte, welchen Preis sie sich vorstellte und welche Zutaten sie brauchen würde. Sie war der Meinung, dass man damit doch innerhalb von ein paar Tagen locker ein paar tausend Dollar verdienen könne. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie meine ganze Verwandtschaft davon überzeugen wollte, hunderte Pfund Kartoffeln zu schälen und zu reiben, Zwiebeln zu schnippeln, Eier dazuzurühren, um dann in lustiger deutscher Tracht an einem brüllend heißen Sommertag in heißem Fett gebratene Potato Pancakes German Style zu verkaufen.
»Barbara«, erwiderte mein skeptischer Ehemann, »Reibekuchen isst man vor allem, wenn es draußen eisig kalt ist, nicht im Sommer.«
»Ach, die Leute in Minnesota werden diese Reibedinger lieben, egal bei welchem Wetter.«
So richtig abbringen von ihrem Plan konnten wir sie nicht – und wir sind schon jetzt gespannt, in welchen Variationen der Reibekuchen-Businessplan beim nächsten Besuch vorgetra-gen wird.
Vielleicht sollten wir sie besser davon überzeugen, beim Minnesota Winter Carnival einen Glühweinstand zu eröffnen. Das wäre sicher ein Erfolg, denn im Winter sinken die Temperaturen in Minneapolis/St. Paul gerne mal auf minus dreißig Grad, wer würde da zu einem Glühwein Nein sagen können?
Andererseits wäre es vielleicht unvorteilhaft für mich, wenn meine Mutter auf die Idee käme, Peter und mich als vermeintliche Glühwein-Experten als Verkaufspersonal zu rekrutieren. So weit reicht die Liebe zum Klima meiner alten Heimat auch nicht …
Übrigens hat der Winter Carnival in Minnesota nichts mit dem Karneval in Deutschland zu tun.
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