Dear Germany - Dear Germany - Life without a top sheet
konnte. Sie sollte nicht denken, Karneval wäre das einzige Fest, bei dem man sich verkleidet. Wie es eine glückliche Fügung des Schicksals wollte, veranstalteten Landsleute von mir eine große Halloween-Party, zu der meine damals dreijährige Tochter eingeladen war. Mit den Nachbarn der Gastgeber war abgesprochen, dass sie sich am Trick or Treat beteiligen, und da viele Amerikaner in dem Viertel wohnten, machte das die Sache einfacher. Die Kinder fanden rasch Gefallen an diesem Brauch und hatten einen Heidenspaß: Die Kleinen tingeln in den verrücktesten Kostümen von Tür zu Tür, krähen den Hausbesitzern ein lautstarkes Trick or Treat ins Gesicht, bekommen zur Belohnung Süßigkeiten geschenkt, und weiter geht’s zum nächsten Nachbarn.
Oft sind in den USA die Häuser geschmückt, vor allem mit Kürbissen und Laternen, manchmal aber auch mit Geistern, riesigen Spinnen und Hexen.
Im Jahr darauf beschloss ich, Halloween in unserem Wohnviertel einzuführen. Ich verfasste eine kurze schriftliche Erklärung, was es mit Halloween auf sich hat und wie es gefeiert wird, kopierte sie und verteilte die Information an ungefähr dreißig Häuser in unserer Nachbarschaft. Ich legte einen kleinen Kürbis aus Papier dazu, den am Abend von Halloween jeder an seine Tür hängen sollte, der an einer Teilnahme am Trick or Treat interessiert war.
Ich machte einen zentralen Treffpunkt mit all den kleinen Süßigkeitensammlern aus, damit sie gleichzeitig zu den Häusern losmarschieren konnten, um dort zu klingeln. Die Kinder waren sofort hellauf begeistert. Sie strahlten in ihren Kostümen um die Wette und waren mit Feuereifer bei der Sache. Am schwierigsten war, sie dazu zu bringen, Trick or Treat zu sagen – vielleicht weil es Wörter sind, die in keinem Popsong vorkommen.
Alles in allem war der Abend ein voller Erfolg, und alle hatten eine Menge Spaß. Aber wer konnte schon ahnen, dass wir nach dieser erfolgreichen Einführung in amerikanische Sitten und Bräuche aus dem Viertel wegziehen würden? Eine Nachbarin bedauerte das sehr, da gerade die richtige Begeisterung für Halloween aufkam.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen, und Halloween ist in Deutschland nicht mehr so unbekannt wie damals. In den Läden gibt es kitschige Dekorationen zu kaufen, und im Radio werben sie jedes Jahr für kommerzielle Halloween-Partys für junge Leute.
Zu meinem großen Erstaunen klingelten letztes Jahr eines Abends sechs deutsche Knirpse bei uns. Sie sagten: »Bitte was zum Naschen.«
Verblüfft erwiderte ich: »Sorry, meint ihr Trick or Treat ?«
Die Kinder blickten mich verständnislos an und wiederholten: »Bitte was zum Naschen.«
Da neben unserer Haustür ein paar Kürbislaternen standen, fand ich es in Ordnung, den Wunsch der angehenden Halloweenprofis zu erfüllen. Glücklicherweise hatte ich einen ganzen Korb voller Süßigkeiten für das Trunk or Treat unserer Kirchengemeinde vorbereitet, das am nächsten Tag stattfinden sollte.
Jetzt werden Sie sich wahrscheinlich fragen: »Was bitte schön ist denn Trunk or Treat ?« Man könnte sagen, dass es die Übersee-Version von Halloween für Amerikaner fern der Heimat ist. Wir packen dafür den Kofferraum unseres Autos, also den trunk , mit Süßigkeiten und Dekoration voll und treffen uns mit anderen Eltern auf einem öffentlichen Parkplatz, wo die Kofferraumdeckel dann alle hochgeklappt werden und jeder sein Fahrzeug mit brennenden Kürbislaternen schmückt. Anschließend gehen die Kinder herum, um Süßigkeiten und Geld einzusammeln. Bei unserem Trunk or Treat herrscht immer eine herzliche, friedvolle Atmosphäre, und die Kinder bekommen die Gelegenheit, Halloween zu feiern, wenn auch auf kleinerem Raum. Aber dennoch sind alle, Kinder wie auch Eltern, restlos begeistert.
Wie das so ist mit adoptierten Bräuchen, fügt man einiges hinzu und unterlässt anderes. Ein deutscher Kollege erzählte einmal von seiner Mutter, die einen Kürbis ausgehöhlt hatte und aus dem Kürbisfleisch eine Suppe kochen wollte, nach,wie sie sagte, uralter amerikanischer Halloween-Tradition. Der Sohn, der mal einige Zeit in den USA gelebt hatte, erklärte ihr daraufhin, dass Kürbissuppe nicht zu den klassischen amerikanischen Halloween-Gerichten zählt. Suppe wäre zwar sicherlich gesünder als all die Süßigkeiten, aber sie gehört nicht zur Tradition.
Ein anderer deutscher Bekannter sagte einmal zu mir, dass er in diesem Jahr unheimlich viele Halloweens gesehen habe. Er ging irrtümlich davon
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