Deathbook (German Edition)
ausgelöst, und es hatte mir gutgetan, dass sie mich ab und an gebraucht hatte.
Aber war ich wirklich für sie da gewesen?
Ich erinnerte mich an ihren letzten Anruf, drei Tage vor dem Unglück. Wenn ich schrieb, befand ich mich oft «im Tunnel». Ich nannte diesen Zustand so, weil ich mich dann abkapselte und nichts von der Außenwelt mitbekam. Ich ging dann nicht einmal ans Telefon. Nur bei meinem Agenten, zwei guten Freunden und eben Kathi machte ich eine Ausnahme. Aber wenn ich im Tunnel war, war ich kein guter Zuhörer.
Bei ihrem letzten Anruf hatte mich Kathi gefragt, ob ich noch Kontakt zu diesem Hacker hätte. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder Probleme mit ihrem Computer. Ich hatte ihr versprochen, mich darum zu kümmern. Diesem Versprechen war ich bis heute nicht nachgekommen.
Ich stand von dem harten Besucherstuhl auf, trat vor den Sarg hin und stellte das Bild vorn auf den Deckel des Sarges. Von dort aus würde Kathi morgen während der Beerdigung die Trauergäste anlächeln. Genau so sollten alle sie in Erinnerung behalten. Keinen Moment sollten sie daran denken, was der Güterzug aus ihr gemacht hatte. Es reichte, wenn die Bilder meinen Kopf füllten.
«Das kann nicht die Wahrheit sein», sagte ich leise. In der stillen engen Kapelle klangen meine Worte trotzdem laut.
«Niemals hättest du so etwas getan.»
Ich strich mit dem Daumen über das Foto, über ihr Gesicht.
«Wenn es etwas herauszufinden gibt, ich schwöre dir, ich finde es heraus. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.»
D ie basslastige Musik klang über die neuen interaktiven Lautsprecher und den übergroßen Subwoofer besonders intensiv. Er hörte die Musik nicht nur, er spürte sie. In seinen Knochen, seinen Muskeln, seinem Kopf. Sie füllte ihn aus und ließ ihn sich lebendig fühlen. Alles in ihm vibrierte. Und genau das brauchte er jetzt.
Vor ihm auf dem Bildschirm befand sich das Video-Rohmaterial. Es war eine äußerst filigrane und langwierige Arbeit, jeden einzelnen Frame zu bearbeiten, aber er würde sich niemals mit einem Ergebnis zufriedengeben, bei dem nicht jede Kleinigkeit seinen Vorstellungen entsprach.
Sobald er dieses Video öffentlich machte, würde alle Welt daran herummäkeln und im Nachhinein seinen Stolz und seine Freude zerstören. So war das eben heutzutage. Das Web war zu einer Müllhalde verkommen, in der schmierige Subjekte ohne eigenen Anspruch und ohne Kreativität es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, alles zu kritisieren, was andere erschufen. Beurteile, rezensiere, kritisiere, darauf reduzierte sich alles. Die in der Schule verhasste Allmacht der Lehrerschaft mit ihrem staatlich organisierten System von Unterdrückung und Herabsetzung war ins Netz gesickert und hatte es verpestet. Spießigkeit und Intoleranz waren eingezogen, jeder war nur noch daran interessiert, sich über den anderen zu stellen. Freiheit gab es schon lange nicht mehr. Zumindest nicht für die breite Masse.
Er öffnete den nächsten Frame.
Er zeigte ihr Gesicht kurz vor dem Aufprall.
Wegen der schlechten Lichtverhältnisse war die Aufnahme nicht besonders gut, und er war auch nicht wirklich nah dran gewesen. Schon fragte er sich, ob es überhaupt eine gute Idee gewesen war, es auf diese Art zu tun. Da war zu viel Schnelligkeit, zu viel Energie im Spiel gewesen. Er hatte nicht die volle Kontrolle gehabt, war nicht Herr der Situation gewesen. Aber wahrscheinlich spielte es für den Erfolg des Videos keine große Rolle. Die User würden sich darauf stürzen wie die Maden auf rohes Fleisch, das wusste er. Allein schon wegen des vielen Blutes und der abgetrennten Körperteile.
Doch er selbst hatte etwas anderes erhofft. Je länger er durch die Frames zappte, desto größer wurde seine Enttäuschung. Er fand Angst und Panik in ihrem Gesicht, sah Zerstörung und Tod – aber nicht das, wonach er suchte.
Bevor aus Enttäuschung Ärger werden konnte, öffnete sich auf dem zweiten Bildschirm ein Chat-Fenster, und eine Nachricht erschien.
Absender war ein gewisser TommyX 5 .
W ir hatten seit einigen Tagen gutes Wetter, und es hielt auch am Tag der Beerdigung an. Nur ein paar wenige weiße Wolken standen am freundlichen blauen Himmel. Ich fand das unpassend, denn in mir sah es so düster aus wie selten. Ich wünschte mir Hagel, Blitz und Donner – und einen pechschwarzen Himmel.
«Wie schön», sagte die alte Dame neben mir, als wir die Kapelle betraten.
Ich antwortete nicht und sah sie nur fragend an.
«Na,
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