Deathbook (German Edition)
ihm als dem Leben. Du hast nach ihm gesucht, hast ihm nachgespürt, du sehnst dich danach, dorthin zu gehen, wo deine Mutter ist …»
«Haben Sie meine Mutter getötet?», unterbrach Ann-Christin ihn.
Er schüttelte den Kopf. «Nein, das war ein glücklicher Zufall. Und soll ich dir etwas sagen? Ich beneide dich darum, dass du sterben wirst. Endlich wirst du erfahren, was es wirklich bedeutet. Damit erlangst du die allergrößte Weisheit, die ein Mensch erlangen kann. Weißt du, es interessiert mich gar nicht, was danach kommt, ob es einen Himmel oder eine Hölle gibt. Was mich wirklich interessiert, ist der Übergang, der Moment, in dem die Seele den Körper verlässt. Mit all meiner Technik, meinen Kameras, kann ich diesen einzigartigen Moment doch immer nur von außen festhalten. Versteh mich nicht falsch, es kommt der allergrößten Weisheit schon sehr nahe. Irgendwann, da bin ich ganz sicher, werde ich ihn sehen: Thanatos, den Gott des Todes. Er ist der Fährmann der Seele, weißt du. Und wenn ein Lebender ihn erblickt, wird er unsterblich. Du wirst den Übergang erleben. Und du wirst ihn genießen, weil ich dich darauf vorbereite. Sei dankbar dafür. Nur die wenigsten Leben enden in Weisheit.»
«Nein, bitte nicht … glauben Sie mir doch, ich will nicht sterben.»
Verzweifelt versuchte Ann-Christin, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen, aber er war schon wieder verschwunden. Sie hörte ihn irgendwo links von ihr rumoren. Etwas rollte über den Fußboden. Im nächsten Moment geriet ein hohes silbriges Gefäß aus Metall in ihr Blickfeld. Mehrere durchsichtige Schläuche hingen aus dem kuppelförmigen Deckel des Gefäßes. Oben ragte ein Druckmanometer heraus.
«Ich habe alles hier», sagte der Mann, der hinter dem Gefäß stand. «Alles, um deine Schönheit sehr lange zu erhalten. Das habe ich noch bei niemandem getan, weißt du. Aber du bist es mir wert. Ich habe nicht übertrieben im Chat. Wir beide sind seelenverwandt. Wir teilen die gleichen Ängste und Interessen. Ja, ich will sogar noch weiter gehen und dir sagen: Ich liebe dich. Das ist mir nie zuvor passiert. Dafür möchte ich dir danken. Hier drin …» er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den Metallbehälter. Ann-Christin konnte hören, dass er gefüllt war.
«… in diesem Behälter befindet sich eine Mischung aus Alkohol, Formalin und Lanolin. Ich habe die höchste Konzentration Formaldehyd verwendet, du wirst also sehr lange schön bleiben. Sagt dir der Begriff ‹Modern Embalming› etwas, meine Schöne?»
Ann-Christin konnte es nicht verhindern: Sie begann zu weinen. Sie würde hier sterben, das war sicher. Der Mann war verrückt, und er kannte keine Gnade. Jetzt, wo sie sich vorgenommen hatte, aus dem Käfig auszubrechen, in dem sie mit ihrer Mutter die letzten Jahre gelebt hatte, gerade jetzt sollte sie sterben? Ihr ganzes Leben lag doch noch vor ihr. Das war so unfair!
Der Mann schüttelte den Kopf. «Nein, das sagt dir nichts, woher auch», murmelte er.
Er schob noch eine weitere Apparatur an den Tisch. Ein hochkompliziertes Gerät mit vielen Anzeigen und Schläuchen. Es sah medizinisch aus. In der Mitte gab es zwei halbrunde Schaugläser, die den Blick freigaben in die dunkle Kammer dahinter. Weiße Schaufelrädchen waren darin zu sehen. War das eine Pumpe?
«Ich erkläre es dir kurz mit einfachen Worten. Wenn man weiß, was passiert, hat man keine Angst mehr, weißt du. Und ich möchte ja nicht, dass du dich ängstigst. Du sollst es genießen, meine Schöne.»
Plötzlich stand er neben ihr, nahm einen der durchsichtigen Schläuche von dem rollbaren Behälter und klebte den Schlauch mit einem Klebestreifen an ihren nackten Oberschenkel.
Ann-Christin zuckte zusammen und schrie auf.
«Ich weiß, dass ist unangenehm und kalt, aber es muss leider sein. Also: Beim Modern Embalming geht es um die übergangsweise Konservierung von Leichen. Ich versuche es heute zum ersten Mal an einer noch lebenden Person, aber ich denke, das macht keinen großen Unterschied. Dein Blut wird gegen eine verwesungshemmende Flüssigkeit ausgetauscht, diese hier.» Dabei klopfte er erneut gegen den Behälter. «Der ganze Vorgang gleicht einer Dialyse. Dieser tolle Apparat hier», er zeigte auf das medizinische Gerät mit den Schaugläsern, «wird dir das Blut aus dem Körper saugen. Danach leitet eine elektrische Pumpe die Lösung in dich hinein. Durch die Zellwände verbreitet sie sich im ganzen Körper, aber das spürst du nicht,
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