Deathbook (German Edition)
schmerzte immer noch. Viel mehr zu schaffen machte mir aber, dass ich einfach nicht weiterkam. Weder in Kathis Sache noch mit einem neuen Roman. Aus alter Angewohnheit schrieb ich die erste Szene eines neuen Romans stets mit Bleistift von Hand. Aber auf dem Papier stand noch kein einziges Wort des neuen Textes. Schlimmer noch: In meinem Kopf fand sich nicht einmal der Hauch einer Idee. Ein solcher Hauch reichte mir sonst immer, mehr brauchte ich nicht, um zu starten. Der Rest entwickelte sich beim Schreiben.
Bisher hatte ich nur Kritzeleien zu Papier gebracht. Figuren, Striche, symmetrische Formen. Dazwischen immer wieder ein Name.
Kathi.
Sie war es, auf die sich meine Gedanken fokussierten.
Ihr Tod lastete wie ein Granitblock auf mir und presste meine ansonsten blühende Kreativität auf die Größe einer Erbse zusammen. Ich ließ es einfach zu nah an mich heran, wusste aber nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich wollte leiden, ich wollte trauern, aber vor allem wollte ich wissen, was ihr zugestoßen war. Nach wie vor. Ein Schlag ins Gesicht setzte mich nicht außer Gefecht. Ich war hart im Nehmen. In meinem bisherigen Leben hatte ich vieles einstecken müssen, manches war härter gewesen.
Ich griff nach dem Schwenker und trank süßen Rotwein, auch wenn ich wusste, dass ich es am nächsten Morgen bereuen würde. Schon nach dem ersten Glas spürte ich die befreiende Wirkung. Und ich traf eine Entscheidung: Ein neues Buch und Kathi, beides gleichzeitig funktionierte nicht, das Buch musste warten. Aber vielleicht musste ich das Schreiben und meine Ermittlungen, wenn man diese stümperhaften Versuche denn so nennen wollte, miteinander verquicken.
Genau! Warum war ich nicht viel früher darauf gekommen?
Analyse der Protagonisten. Plausibilität der Handlungen und ihre Auswirkungen auf die Story überprüfen.
Ich zog ein weißes Blatt Papier heran und begann eine Liste.
Kathi kam ganz nach oben.
Darunter: Astrid Pfeifenberger, ihre Lehrerin.
Theresa und Viola, die Freundinnen. Marco, der Junge, für den Kathi angeblich geschwärmt hatte. Ein Unbekannter in einem schwarzen Wagen, der Kathi verfolgt hatte. Ein Unbekannter, der sie gefilmt hatte. Ein Unbekannter in einem weißen Wagen, der vor mir geflüchtet war und mich niedergeschlagen hatte.
Anima Moribunda, der Absender des Videos.
Hatte ich jemanden vergessen? Gab es noch einen Namen, von dem ich gehört, oder eine Person, die ich gesehen hatte? Heiko und Iris natürlich, aber die kamen nicht in Frage.
Ich ließ den Stift sinken und starrte meine Liste an. Sie war kurz. Und sie sagte mir nichts.
Ach ja: Franz Altmaier.
Das Todesprojekt in der Schule, schrieb ich unter seinen Namen und machte einen Kringel drum herum.
Der Text über den Tod 3 . 0 .
Das digitale Virus ist die Pest der Neuzeit.
Beide Sätze kringelte ich mehrfach ein.
War die zeitliche Nähe des Schulprojektes zu Kathis Tod Zufall?
Zufälle, die die Geschichte entscheidend voranbrachten, waren unter Autoren verpönt. Und hier, im realen Leben? Nein, solche Zufälle gab es nicht.
Aber mir fiel etwas ein. Was, wenn der Unbekannte nicht zufällig zur gleichen Zeit mit mir an den Gleisen gewesen war? Was, wenn er mich verfolgt hatte? Wenn es so war, wo war er auf mich aufmerksam geworden? Bei der Beerdigung? In der Schule? Bei Heiko und Iris im Garten?
Bei Facebook?
Ich loggte mich ein. Meine letzte Statusmeldung stammte noch von Kathis Rechner. Ich hatte sie auf ihre Seite geschrieben.
Ruhe in Frieden.
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98 Kommentare.
Da hatte ich ja was losgetreten!
Ich öffnete das Kommentarfeld und begann zu lesen.
Beileidsbekundungen, viele davon sehr ergreifend. Zu achtzig Prozent stammten sie von Mädchen, auf einigen Bildern erkannte ich Facebook-Freunde von Kathi und mir. Die Posts der Jungs waren kürzer, klarer, aber nicht weniger rührend. Ein Post stach aus allen anderen hervor. Er befand sich am Ende der langen Liste und war erst vor zwei Stunden generiert worden.
«Hat Kathi den Tod gesucht, oder hat ER sie gefunden?»
Ich klickte auf den dunkelblau hinterlegten Namen des Nutzers. Er hieß M. A. Thaunn, sein Profilbild war die unscharfe Aufnahme eines jungen Mannes, der mit nur halbem Gesicht in die Kamera blickte. Wahrscheinlich ein Selbstporträt mit dem Handy.
Die Seite schien ein Fake zu sein. Es gab weder Freunde noch irgendwelche anderen Informationen. Das Titelbild war einmal geändert worden. Von einem verschneiten Winterwald zu einer
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