Deathbook (German Edition)
stieg dann aber doch ein. Auf dem Weg zu einem freien Platz grüßte er zwei seiner Kumpels, war aber ganz froh, dass er sich nicht neben sie setzen konnte. Er hatte keine Lust auf ein Gespräch. Er ging bis ins hintere Drittel durch, ließ sich auf einen freien Platz am Fenster fallen und blockierte den anderen Sitz mit seiner Tasche. Mit etwas Glück und wenn er nur finster genug guckte, würde sich niemand neben ihn setzen.
Kaum saß er, kreisten seine Gedanken wieder um diese eine Sache. Sollte er vielleicht doch mit jemandem darüber sprechen? Seine Eltern schieden natürlich aus, seine Lehrer auch. Vielleicht sein Freund René, der hätte auch Verständnis dafür, wie er in diese Situation gekommen war. Aber die Gefahr, sich zu blamieren, war einfach zu groß. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass irgendjemand aus der Schule dahintersteckte. Ein paar von den Jungs wussten von seiner Leidenschaft für Snuff-Videos. Führten die ihn etwa gerade vor? Etwas anderes konnte Tommy sich nicht vorstellen, wollte er sich auch nicht vorstellen. Was diese Maskenfratze in dem Video gefaselt hatte, war ja auch ziemlich diffus.
Nur: Wie hatte jemand aus der Schule dieses perfekte Video von dem jungen Mädchen auf den Gleisen hinbekommen? Klar, es gab sicher den einen oder anderen Computercrack, aber das hier hatte so überzeugend, so real gewirkt.
Der Bus fuhr gerade ein paar Sekunden, da brach die Musik ab, und das Handy meldete den Eingang einer Nachricht. Tommy wischte über den Bildschirm und rief sie auf. Der Absender war eine Mobilnummer, die er nicht kannte. Die Nachricht bestand nur aus einem Dateianhang. Tommy wollte die SMS schon löschen, hielt aber inne, überlegte kurz und öffnete den Anhang doch.
Die Kamera zeigte Tommy von hinten, wie er an der Straße entlang Richtung Bushaltestelle ging. Dabei hielt sie einen Abstand von circa dreißig Metern ein. Während er an der Bushaltestelle wartete, filmte die Kamera ihn aus größerer Entfernung aus Büschen heraus. Sie blieb so lange auf ihn gerichtet, bis er in den Bus einstieg.
Tommys Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er warf das Handy auf den Sitz, sprang auf wie von der Tarantel gestochen, lief ans große Heckfenster und sah hinaus. Das Fenster war schmutzig, er konnte nur sehr verschwommen sehen.
Aber er war sich sicher, irgendwo dort hinten am Straßenrand stand jemand.
W enn es morgens beim Erwachen im Schädel hämmerte, wenn die Nacht schlaflos und die Gedanken krude und angsteinflößend gewesen waren, dann gab es für mich nur eine Möglichkeit, den Tag noch zu retten.
Raus und laufen.
Ich lief nicht gern nach dem Aufstehen. Um ehrlich zu sein, hasste ich es. Aber die Aussicht auf einen Tag voller schlechter Laune ließ mich dennoch nach den Laufschuhen greifen, sobald ich die Augen weit genug geöffnet hatte.
Ich lebte in einem einsam gelegenen Haus am Waldesrand. Meine Laufstrecke begann unmittelbar hinter dem Grundstück. Die ersten Schritte waren steif und schwer und erschütterten den ganzen Körper, sodass meine verletzten Lippen wieder zu pochen begannen. Bislang hatte das Flüssigpflaster gehalten, und ich hoffte, dass das so blieb.
Die Luft war frisch und klar. Ein paar wenige Atemzüge reinigten die Lungen vom Mief der Nacht und den Kopf vom Ballast des Todes. Natürlich dachte ich fortwährend an Kathi und an alles, was ich bisher herausgefunden hatte, aber die Gedanken waren anders als noch gestern Nacht vor dem Computer. Sie waren zielgerichteter, weniger verworren.
Mir fiel mein hilfloser und vielleicht sogar naiver Hilfeaufruf ein, den ich gestern bei Facebook gepostet hatte. Bei Tageslicht betrachtet kam er mir albern vor. Hoffentlich hatte ich mich damit nicht zur Zielscheibe eines Shit-Storms gemacht. Nun, ich würde es herausfinden, sobald ich zurück war.
Du musst systematisch vorgehen, sagte mein Verstand.
Das kann ich nicht, sagte mein Bauch.
Selbst beim Schreiben meiner Bücher gehe ich nicht systematisch vor. Leser von Krimis oder Thrillern stellen sich gern vor, dass deren Autoren sich über die Figuren und den Plot einer Geschichte im Klaren sind, bevor sie den Stift zur Hand nehmen. Auf viele meiner Kolleginnen und Kollegen trifft das auch zu, wahrscheinlich sogar auf die meisten, aber nicht auf mich. Wenn ich ein neues Buch beginne, habe ich nicht mehr als eine Idee. Ein vages Bild. Einen Flash. Das reicht mir. Damit kann ich leben und arbeiten, und weil ich anfangs nicht weiß, wohin die Reise
Weitere Kostenlose Bücher