Deathbook (German Edition)
verschneiten Flusslandschaft. Völlig beliebig also.
Ich wechselte auf meinen Account und schrieb eine Nachricht an M. A. Thaunn.
«Was soll der Kommentar auf Kathis Profil?»
Wenn der Typ etwas zu sagen hatte, würde er sich schon melden, dachte ich. Und dann kam mir die Idee, mir von Kathis Facebook-Freunden helfen zu lassen. Wenn es jemanden gab, der mehr über Kathis letzte Wochen wusste als ich, würde ich die Person am ehesten über Facebook finden.
Ich gab eine neue Statusmeldung ein:
Hallo, Freunde von Kathi! Warum ist sie gestorben? Wer kann mir helfen? Schreibt mir!
Z ehn. Sechs. Drei. Zwei.
Nach jedem zehnten Schritt einen Blick über seine Schulter zurück. In jedem sechsten Laden- oder Hauseingang warten. An jeder dritten Ecke stehen bleiben und die anderen Menschen beobachten. Jede zweite Nebenstraße als Umweg in Kauf nehmen. Auf diese Weise näherte er sich in konzentrischen Kreisen seinem Ziel. Die einmal festgelegte Zahlenfolge behielt er dabei stets bei.
Zehn. Sechs. Drei. Zwei.
Zahlen waren wichtig. Sie gaben ihm Sicherheit. Sie sprachen eine andere Sprache, und er hörte gern darauf. Vielleicht waren sie sogar seine einzigen Verbündeten in einem schier aussichtslosen Kampf.
Niemand sonst konnte ihm helfen.
Andere Menschen schon gar nicht. Sie waren seine Feinde. Sie glaubten, sie lebten, dabei vegetierten sie nur vor sich hin, vermaßen mit der Länge eines jeden Tages einen Weg, der sie in SEINE Arme führte. Nicht immer direkt, mitunter waren Umwege vonnöten, so wie er sie notgedrungen einlegte, aber am Ende durchrissen sie alle dasselbe Zielband an derselben Ziellinie.
Und dahinter?
Licht oder Dunkelheit? Qual oder Seelenheil, Erkenntnis oder der vollkommene Verlust von Erinnerung und Wissen?
Offene Fragen. Keine empirisch gesicherten Daten.
Er aber hatte sich entschieden. Schon vor langer Zeit.
Dahinter war Feindesland. Vermint auf Schritt und Tritt. Unwirtlich und lebensfeindlich, denn dort fand kein Leben statt, sondern Kampf. Und darum unterschied sich das Dahinter nicht wesentlich von dem Davor. Diejenigen, die sich den Himmel erhofften, die glaubten, nach dem Leben auf Erden würde es besser werden, und die in diesem Glauben alle irdischen Qualen auf sich nahmen, die würden sich noch wundern.
Verzeih, Petrus, das habe ich mir anders vorgestellt. Auf Erden war ich dein Diener, und es war ein karges, hartes Leben. Ich habe es ertragen im Glauben an dich. Und nun? Warum nun dies?
Weil du ein Narr bist, Mensch. Weil du nicht geschaffen bist, zu verstehen.
Er selbst, das gestand er sich ein, verstand auch nicht alles. Aber dadurch, dass er sich so umfangreich und intensiv mit dem Tod auseinandergesetzt hatte, glaubte er doch, so etwas wie eine Ahnung zu haben. Diese Ahnung glich einer übers Internet, vielleicht über das Handy verschickten Fotografie. Solange diese Fotografie nicht komplett hochgeladen war, erkannte man nur Schemen, aus denen man sich, einiges Wissen über den Absender vorausgesetzt, ein Bild machen konnte.
Das war nicht viel, aber damit war er den anderen Menschen, den reinen Vermessern des Weges, weit voraus.
Und was brachte es ihm?
Dies hier. Das Ziel, vor dem er jetzt stand.
Eine versiffte Bude, die Miete so gering, dass sie ein Witz war, ohne Vertrag natürlich, am jeweils Ersten im Voraus bar auf die Hand. Auf die schwielige Hand mit schmutzigen Nägeln eines Mannes, der keine Gespräche mochte und keine Verhandlungen. Eines Mannes, dessen absoluter Verschwiegenheit man sich sicher sein konnte. Dem sein Geld mehr wert war als ein Menschenleben.
Die Treppe hinunter in das versiffte Loch war steil. Der Beton bröckelte, an der gegossenen Mauer kroch ein schmieriger Moosteppich empor, der bei kühlem, feuchtem Wetter zu stinken begann, weil von oben so viel Pisse heruntergelaufen war. Bis er hier eingezogen war, hatte er nicht gewusst, dass Moos Pisse liebte.
Unten die Tür. Immerhin aus festem Holz mit Beschlägen aus rostfreiem Stahl. Die Tür war das Beste, ihretwegen hatte er die Wohnung überhaupt genommen. Niemand konnte sie von außen aufbrechen. Und das Schloss war ein Sicherheitsschloss. Er hatte es beim Einzug selbst bezahlen müssen. Der Mann mit den schwieligen Barzahlerhänden fragte sich wahrscheinlich, was ein Typ wie er in dieser versifften Bude zu verstecken hatte, dass es eines solchen Schlosses bedurfte.
Die Antwort war einfach. Sich selbst.
Fiel die massive Tür ins Schloss, erlosch damit beinahe jegliches Licht.
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