Deathbook (German Edition)
Hand setzte ich mich an meinen Schreibtisch und presste das kühle Metall an die Oberlippe.
Für einen Moment schloss ich die Augen und dachte nach.
Hatte ich Kathis Mörder verfolgt?
Die Vermutung lag nahe. Warum sonst war die Person geflüchtet? Und dieser Schlag mit dem Ast wäre völlig unnötig gewesen, wenn die Person nichts zu verbergen hatte. Das Glück war auf meiner Seite, ich war zum richtigen Zeitpunkt dort gewesen. Und ich hatte jetzt eine Spur.
Ich griff in die hintere Tasche der Jeans und zog den Notizzettel hervor. Darauf hatte ich das Kennzeichen des weißen Wagens notiert. Es wurde Zeit, meine Freundin bei der Polizei zu kontaktieren.
Ich suchte die Nummer aus dem Speicher meines Telefons und ließ es klingeln. Dabei spürte ich ein unangenehmes Pochen in der Lippe.
«Manuela Sperling», meldete sie sich. Ich war überrascht, wie gut es tat, die fröhliche Stimme der jungen Kommissarsanwärterin zu hören.
«Hallo Manuela», begrüßte ich sie. «Andreas hier. Du weißt schon, der psychopathische Schreiberling.»
«Klar weiß ich. Schön, von dir zu hören. Wie geht’s? Du klingst erkältet.»
«Erkältet bin ich nicht, aber meine Lippen sind geschwollen.»
«Aha», machte Manuela Sperling und klang amüsiert. «In der Kneipe eine große Klappe riskiert?»
«Würde wohl eher zu dir passen, oder?», gab ich zurück. Manuela sprach meistens aus, was sie dachte. Außerdem konnte sie kaum zwei Minuten still sein. Sie wusste das und nahm es mit Humor. «Wenn ich meinen Mund nicht benutze, habe ich doch gar nichts mehr», hatte sie mal gesagt und damit auf ihre geringe Körpergröße und ihre schmale Statur angespielt. Ich mochte sie. Manuela hatte Humor, ein großes Herz, und aufgeben kam für sie nicht in Frage.
«Jemand hat mir einen Ast ins Gesicht gedroschen», sagte ich. Dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte, angefangen bei Kathis merkwürdigem Unfall. Oder bei ihrem Freitod, wie die Polizei ihn bezeichnete.
Manuela hörte geduldig zu und unterbrach mich nicht.
«Das tut mir wirklich leid», sagte sie, nachdem ich geendet hatte. «Ich erinnere mich, dass du mir mal von Kathi erzählt hattest. Wie alt ist sie geworden?»
«Sechzehn. Gerade so.»
«Scheiße, das ist echt scheiße.»
Wir schwiegen beide.
«Aber wie kann ich dir helfen?», fragte sie schließlich.
«Mit einer Halterabfrage zu dem Kennzeichen.»
«Du weißt, dass ich das nicht machen kann.»
«Bitte.»
«Andreas … nein, das geht nicht. Ich komme in Teufels Küche, wenn das herauskommt. Es gibt keine offizielle Ermittlung, und selbst wenn, ich habe gar nicht die Möglichkeit, einfach so eine Halterabfrage zu machen. Geh mit deiner Geschichte bei dir vor Ort zur Polizei und bitte die Kollegen um Hilfe.»
«Wenn du mir schon nicht hilfst, werden die es erst recht nicht tun.»
«Ja, vielleicht, aber aus gutem Grund. Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber kannst du wirklich ausschließen, dass Kathi Suizid begangen hat?»
Erst wollte ich sofort laut und deutlich ja sagen. Aber dann fielen mir die Facebook-Seiten ein, die sie geliked hatte. Seiten, die sich mit dem Tod beschäftigten. Und die Bemerkung ihrer Schulfreundin Viola, dass Kathi sich so sehr in das Thema der Projektgruppe hineingesteigert hätte. Der Text über den Tod 3 . 0 , die Notiz an ihrer Lampe – all das ließ mich einen Moment innehalten.
«Siehst du», sagte Manuela am anderen Ende der Leitung. Natürlich hatte sie mein Zögern bemerkt. «Man kann sich nie sicher sein. Auch du schaust den Menschen nur vor die Stirn. Nicht in den Kopf hinein.»
«Ja, schon, aber ich schließe einen Freitod dennoch zu neunzig Prozent aus», versuchte ich es noch einmal.
«Vorgestern waren es sicher noch hundert Prozent, oder?»
Ach, verflucht, diese Frau konnte echt nerven. Sie hatte ja recht, aber musste sie immer den Finger in die Wunde legen?
«Also keine Halterabfrage», unternahm ich einen letzten schwachen Versuch, sie umzustimmen.
«Tut mir leid», sagte sie. «Kann ich dir sonst irgendwie helfen? Soll ich vielleicht am Wochenende vorbeikommen, und wir betrinken uns?»
Ich wusste, wie wenig die 54 Kilo leichte Manuela vertrug. Nach einem Glas Rotwein begann sie bereits zu schielen.
«Bei deinen japanischen Genen lohnt sich der Weg dafür nicht. Aber trotzdem, danke fürs Angebot.»
Die Wände vibrierten, der Boden bebte.
Bum, bum, bum – gewaltige Boxen feuerten Basssalven auf Menschen ab. Getroffene Körper wogten hin und
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