Deathbook (German Edition)
bedeutet das, was es immer war.
Der Faden ist nicht durchschnitten.
Weshalb soll ich nicht mehr in euren Gedanken sein,
nur weil ich nicht mehr in eurem Blickfeld bin?
Ich bin nicht weit weg,
nur auf der anderen Seite des Weges.
H eute standen Sozialwissenschaften auf dem Lehrplan. Psychologie und Soziologie, jeweils zwei Doppelstunden. Diese Fächer mochte Manuela Sperling besonders gern, vor allem Soziologie, die Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen.
Manuela war als jüngstes Kind der Familie Sperling mit zwei größeren Brüdern aufgewachsen. Sie hatte von Kindesbeinen an mitbekommen, wie abwechslungsreich und aufregend, aber auch schwierig das Zusammenleben in dem Mikrokosmos Familie sein konnte. Viele der Verhaltensmuster einer Familie ließen sich eins zu eins auf größere Gesellschaftsformen übertragen, und es war spannend, die Hintergründe zu beleuchten, warum Menschen in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise handelten und nicht anders.
Sie freute sich auf den Tag.
Der Unterricht begann aber erst um neun Uhr. Vorher wollte sie noch etwas anderes erledigen. Sie hatte nach dem Telefongespräch mit Andreas Winkelmann gestern lange darüber nachgedacht, ob sie überhaupt die Initiative ergreifen sollte – und durfte. Wie sehr der Schriftsteller unter dem Verlust seiner Nichte litt, hatte Manuela selbst durchs Telefon gespürt. Sie hätte ihm nur zu gern mit der Halterabfrage geholfen, aber das überstieg ihre Kompetenzen und konnte sie Kopf und Kragen kosten.
Manuela befand sich im dritten und letzten Studienabschnitt des Bachelorstudienganges an der Polizeiakademie. Zwar waren neben dem rein theoretischen Studium auch begleitende Praktika in verschiedenen Dienststellen vorgesehen. Das berechtigte sie aber nicht zu eigenständigen Ermittlungen.
Aber die Trauer und Verzweiflung des Schriftstellers war auf Manuela übergegangen, sie konnte seinen Hilferuf nicht einfach so ignorieren. Das war sowieso eine ihrer Schwächen: ihr hohes Maß an Empathie und Hilfsbereitschaft. Was in ihr einerseits den Wunsch geweckt hatte, zur Polizei zu gehen, und sie auch dazu befähigte, konnte andererseits ein echter Hemmschuh sein. «Sie können es nicht jedem recht machen und nicht allen helfen», hatte einer ihrer Ausbilder sie schon im ersten Studienabschnitt gewarnt. Damals hatte Manuela das als das konservative Weltbild eines spießigen Beamten abgetan. Leider hatte der Mann aber wohl doch recht. Es hatte sich schon während des Studiums als äußerst anstrengend herausgestellt, ihre Ideale aufrechtzuerhalten. Ganz ablegen würde sie sie niemals, aber sie musste sich schon fragen, ob sie ihre Kraft und Zeit richtig einsetzte.
In diesem Fall erschien es ihr richtig.
Sie mochte Andreas Winkelmann. Vor einem Jahr hatte sie eines seiner ersten Bücher, «Tief im Wald und unter der Erde», gelesen. Manuela war von der Geschichte ebenso begeistert gewesen wie von den beiden weiblichen Ermittlerinnen. Sie hatte sich per Mail bei dem Schriftsteller für die spannende Unterhaltung bedankt und tatsächlich eine Antwort von ihm persönlich bekommen. Daraufhin war sie zu einer seiner Lesungen gegangen. Sie war vorher noch nie auf einer Autorenlesung gewesen, weil sie der Meinung war, solche Veranstaltungen seien langweilig. Mit Promikult hatte sie es nicht so, und den Text vorlesen lassen musste sie sich auch nicht. Sie konnte schließlich selbst lesen.
Andreas Winkelmann hatte aber viel mehr getan, als nur vorzulesen. Er hatte die Gäste wirklich gut unterhalten und den ja doch eher erschreckenden Hintergrund seines Buches mit viel Humor rübergebracht.
Am Ende der Lesung hatte sich Manuela ein Buch von ihm signieren lassen und sich vorgestellt. Er hatte sich sogar an ihre Mail erinnert. Nachdem die anderen Gäste gegangen waren, hatten sie sich bei einem Glas Rotwein noch eine Weile unterhalten. Als Manuela preisgegeben hatte, dass sie auf der Polizeiakademie studierte, hatte Andreas Winkelmann sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, ihn hin und wieder bei Recherchen zu unterstützen.
Daraufhin hatten sie sich dreimal getroffen, jedes Mal in demselben Café in der Nähe der Akademie. Er wohnte nicht weit entfernt, kaum eine Autostunde. Von Anfang an hatten sie sich gut verstanden. Manuela mochte es, mit ihm zu plaudern. Er hatte ein in sich selbst ruhendes Wesen und war damit das genaue Gegenteil von ihr. Zudem war er schlagfertig und konnte wirklich gut Geschichten
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