Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
sich konzentrieren. An ihren Taekwondo-Unterricht bei Meister Kim denken. Sie holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe. Spannte die Nackenmuskeln an, immer in dem Bewusstsein, dass die Minuten verstrichen, dass das Ungeheuer jede Sekunde zurückkommen konnte, um sein perverses Ritual vor dem Feuer zu vollziehen.
Sie hielt den Nagel mit beiden Händen, so gut sie konnte, schob die Spitze in den Türspalt und bewegte ihn mit äußerster Konzentration langsam nach oben. Schob jeden anderen Gedanken beiseite, stellte sich nur bildlich vor, wie der Haken sich hob, aus der Öse glitt, wie die Tür sich knarrend öffnete. Sie spürte Widerstand, verminderte den Druck jedoch nicht. Atmete regelmäßig. Stellte sich ihre Flucht vor. Ihre Finger begannen zu schmerzen, ihre Unterarmmuskeln zitterten. Sie achtete nicht auf den Schmerz, dachte nur an den Druck von Metall gegen Metall. Komm schon, komm schon, dachte sie, ihr ganz persönliches Mantra. Komm schon, komm schon, komm schon …
Sie spürte, dass sich etwas tat. Etwas gab nach, der Haken bewegte sich leicht. Ihr Herz machte einen Satz, doch sie hielt den Druck aufrecht, konzentrierte sich fest auf die Bewegung des Riegels.
Im nächsten Augenblick ließ der Druck nach. Der Haken ruckte nach oben, die Tür öffnete sich, und Dani taumelte in den Wohnbereich.
Ohne Zeit zu verlieren, nahm sie rasch das Messer und das Feuerzeug vom Kaminsims, holte die Taschenlampe hervor, die der Entführer in einer Kiste neben dem wackligen Sessel aufbewahrte, schob das Bild von ihrer Mutter – die Frau mit dem rot schimmernden Lockenhaar und den grünen Augen musste ihre leibliche Mutter sein – in ihre Tasche. All diese Dinge trugen die Fingerabdrücke des Täters. Sie hatte gesehen, wie er sie angefasst hatte. Also musste sie sorgfältig darauf achten, sie nicht zu verwischen.
Den Zigarettenstummel mit seiner DNA hatte sie zwar noch immer, aber Fingerabdrücke waren einfacher zu verfolgen, sofern der Mann in der Datenbank gespeichert war. Das glaubte Dani aus Fernsehkrimis zu wissen. Doch für derartige Überlegungen hatte sie jetzt keine Zeit. Sie musste sich beeilen.
Blitzschnell schlüpfte Dani zur Tür hinaus.
Die Nacht war dunkel, nur wenige Sterne und eine schmale Mondsichel schienen vom Himmel über der einsamen Berglandschaft. Dani dachte an Raubtiere, Klapperschlangen und Pumas, Stachelschweine und Fledermäuse, aber nichts, kein Tier auf der ganzen Welt, war so angsteinflößend und tödlich wie die Bestie, vor der sie jetzt floh.
Der Mann würde toben, wenn er feststellte, dass sie ihn überlistet hatte. Ihre Flucht musste gelingen – sie wäre lieber gestorben, als ihm noch einmal in die Hände zu fallen.
Im spärlichen Licht der Taschenlampe folgte sie einem Wildpfad, so schnell sie konnte, ohne zu stolpern. Zwar würde sie früher oder später vom Weg abweichen müssen, damit er nicht ihre Fußspuren im Staub verfolgen konnte, aber zuerst wollte sie möglichst großen Abstand von der Hütte gewinnen.
Sie lief bergab in der Hoffnung, am Fuß des Hügels auf einen Bachlauf zu stoßen. Wenn sie ein Stück durchs Wasser watete, würde er ihre Spur verlieren, und wenn man den alten Filmen glauben konnte, würden dadurch sogar Spürhunde verwirrt. Zum Glück besaß er keinen Hund. Doch zu ihrem Pech waren in einem so trockenen, heißen Sommer wie diesem wahrscheinlich die meisten Bäche ausgetrocknet.
Trotzdem musste sie ihren Plan – sofern man von einem Plan reden konnte – weiterverfolgen.
Konzentrier dich, ermahnte sie sich. Konzentrier dich!
»Das ist also die Stimme Ihrer Tochter – sind Sie sicher?«, fragte Paterno. Er und Rossi waren auf Travis’ Anruf hin zurückgekommen und hatten sich in Shannons Wohnzimmer die Kassette angehört.
»Ich kenne Danis Stimme, Detective«, fuhr Travis ihn an. »Und das andere Geräusch, das im Hintergrund, klingt wie das Prasseln von Flammen. Es scheint, als ob dort, wo dieser Mistkerl sie gefangen hält, ein Feuer brennt. Sicher will er uns damit etwas sagen.«
Paterno lauschte angestrengt, dann nickte er. »Sie haben recht.«
Shannon starb tausend Tode, so oft sie die aufgezeichnete Botschaft hörte. Das Wort ›Mommy‹ aus dem Mund ihrer Tochter zu hören, die sie seit der Geburt nicht gesehen hatte, trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Aber Ihre Frau, Danis Mutter, ist tot!«
Shannon mischte sich ein: »Der Aufruf ist offensichtlich an mich gerichtet. Wir haben die Kassette in meinem Pick-up gefunden,
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