Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
kannte den Ablauf. Nates Pick-up stand nicht an der gewohnten Stelle, doch die Pferde waren auf der Koppel.
Sie fütterte die Hunde und ließ sie in den Auslauf, damit sie sich austoben konnten. »Fühlst du dich vernachlässigt?«, fragte sie Atlas. Der große Hund stupste gegen ihr Bein, während Khan ein Eichhörnchen anbellte, das in den Zweigen einer Eiche zeterte. Shannon kraulte Atlas hinter den Ohren, und er seufzte. »Das gefällt dir, wie? Ich weiß … heute Abend bist du an der Reihe. Und du auch«, sagte sie zu Cissy, die wieder einmal auf der Lauer lag, flach ins trockene Gras geduckt, und den größeren Hund reglos fixierte, um sich bei der ersten Gelegenheit auf ihn zu stürzen.
»Kommt«, sagte Shannon und suchte das Hundespielzeug zusammen. Sie ließ die Hunde apportieren und genoss das Spiel mit ihnen. Sie befriedigten ein Bedürfnis in ihr, das sich jetzt – weil sie von Dani wusste – verlagert hatte. Jahrelang hatte sie geglaubt, sie würde nie Kinder haben, nie erfahren, wie es war, ein Kind großzuziehen. In gewisser Weise hatten die Hunde und Pferde diesen emotionalen Mangel ausgeglichen.
Das hatte sich jetzt geändert, und wenngleich sie die Tiere über alle Maßen liebte und es kaum erwarten konnte, sie in eine geeignetere Umgebung umzusiedeln, war ihr doch bewusst, dass sie nie den Platz ihres Kindes einnehmen würden.
Sie beobachtete eine Weile die Pferde auf der Koppel. Dabei kam ihr wieder das Gespräch ihrer Brüder in den Sinn, die sie neulich belauscht hatte. Dieses Getuschel über die ›Geburtenfolge‹ und etwas, das sie Dad ›zu verdanken‹ hätten. Inzwischen war sie überzeugt, dass Oliver ihr das Geheimnis hatte anvertrauen wollen.
Sie betrachtete die Falbstute, doch ihre Gedanken kreisten wieder einmal um die Reihenfolge, in der ihre Brüder zur Welt gekommen waren: Aaron, Robert, Shea, Oliver, Neville. Sie dachte an den jeweiligen Zeitraum zwischen den Geburten, an die Fehlgeburten, die ihre Mutter erlitten hatte, doch sie fand kein System darin.
Sie musste mit einem ihrer Brüder darüber reden, am besten mit Aaron. Wie mochte er die Nachricht von Olivers Tod aufgenommen haben? Dass sie selbst nicht das Bedürfnis empfand, im Kreis ihrer Familie zu trauern und Trost zu suchen, sondern lieber für sich blieb, war bezeichnend.
Shannon schlug mit der flachen Hand auf das Gatter, gab das Grübeln auf und ging durch den Stall. Die Boxen waren sauber, frisch mit Stroh ausgelegt. Nate war eindeutig im Stall gewesen. Welche Rolle spielte er bei all diesen Vorgängen? Vielleicht war ihr unausgesprochenes Übereinkommen, sich nicht in das Leben des jeweils anderen einzumischen, doch keine gute Idee.
Die Tür am anderen Ende des Stalls wurde geöffnet. Shannon fuhr erschrocken zusammen. Halb rechnete sie mit Travis, doch zu ihrer Überraschung zeichnete sich im Türrahmen Nates Silhouette ab.
Shannon war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie seinen Wagen nicht gehört hatte.
»Nervös heute Morgen?«, fragte Nate. Er trug ein kurzärmeliges, ehemals rotes T-Shirt und Levi’s mit zerrissenen Taschen.
»Kannst du es mir verdenken?«
»Nein.« Mit ernster Miene kam er auf sie zu. »Ich habe gerade in den Nachrichten von Olivers Tod gehört.« Seine Augen waren gerötet, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. »Es tut mir leid.«
»Mir auch.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Shannon sah erneut vor sich, wie Olivers blutige Leiche von dem Balken hing, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Willst du darüber reden?«
Sie schüttelte den Kopf und blinzelte heftig. »Nein, lieber nicht. Es wird schon schwer genug, wenn ich mit meiner Familie sprechen muss, und die Polizei wird mich sicher auch noch einmal vernehmen …« Sie empfand eine innere Leere, die sich wohl nie wieder würde ausfüllen lassen.
»Verstehe.«
»Und bitte bedränge mich jetzt nicht wieder wegen der Alarmanlage. Ich rufe noch heute eine Firma an«, setzte sie hinzu. »Gleich nachdem ich mit Mom gesprochen habe.«
»Wie geht es ihr?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Shannon schuldbewusst. »Ich habe noch nicht angerufen. Shea ist noch in der Nacht zu ihr gefahren. Sie ist bestimmt völlig am Ende.«
»Du aber auch, scheint mir«, bemerkte Nate so zärtlich, dass Shannon beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.
Doch sie beherrschte sich. Stattdessen sprach sie aus, was sie belastete. »Wo warst du, Nate? Und erzähl mir nicht wieder, du hättest viel zu tun, das
Weitere Kostenlose Bücher