Deathkiss - Suess schmeckt die Rache
fremd.
»Ich weiß selbst nicht, warum ich dich angerufen habe«, brachte Mary Beth heraus. »Wahrscheinlich weil du vorhin versucht hast, mich zu erreichen … Ich dachte, du wüsstest vielleicht etwas … Ach, Scheiße. Es war wohl ein Fehler …«
»Das alles tut mir wirklich leid, Mary Beth. Ich weiß, es ist schwer für dich. Aber ich habe dich nicht angerufen …«
Das leise ›Ping‹ der Mikrowelle ertönte.
»Aber natürlich hast du. Deine Nummer steht doch in der Anruferliste. Warum zum Teufel streitest du es ab?«
»Nein, wirklich, ich habe dich nicht …«
»Großer Gott, Shannon. Du bist genauso wie die anderen, wenn nicht noch schlimmer. Lüg mich nicht an. Du und deine widerlichen Brüder … Ich hätte Robert niemals heiraten dürfen! Um nichts in der Welt!« Sie knallte den Hörer auf.
Shannon stand wie erstarrt. Mary Beths Worte hallten in ihrem Kopf nach: Du bist genauso wie die anderen, wenn nicht noch schlimmer … Sie biss die Zähne zusammen. Es gab noch andere Vorwürfe, die auf ewig zwischen ihnen standen: hasserfüllte, wütende Anklagen, die sie ihr Leben lang verfolgten.
»Du hast Ryan umgebracht, ich weiß es«, hatte Mary Beth einmal gesagt, kurz nach der Verhandlung, als Shannon ihr zufällig am Feinkostregal des Lebensmittelgeschäfts in der Stadt begegnet war. »Ganz gleich, wie dein Anwalt mir im Zeugenstand das Wort im Mund umgedreht hat, ganz gleich, wie der Richter entschieden hat, du hast ihn so eindeutig umgebracht, als hättest du ihn eigenhändig mit Benzin übergossen und das Streichholz angezündet.«
Shannon, völlig erschüttert über Mary Beths rasende Wut, hatte sich zur Wehr gesetzt. »Ich habe meinen Mann nicht umgebracht«, hatte sie zum hundertsten Mal beteuert, während sie die Blicke anderer Leute spürte, der Frauen, die halbgefüllte Einkaufswagen mit Kindern im Kindersitz schoben, des erschrockenen Verkäufers hinter der Salattheke, dessen Hand mit einer Kelle voller Nudelsalat auf halbem Weg zum Plastiktöpfchen innehielt.
Mary Beth besaß immerhin so viel Anstand, die Stimme zu senken. »Ich bin deine Schwägerin, Shannon, aber ich bin nicht deine Freundin, dass das klar ist. Nicht mehr.« Und damit schob sie ihren Einkaufswagen weiter zum Gemüsestand.
Shannon hatte sich beschämt und elend gefühlt.
Jetzt schloss sie die Augen und zählte langsam bis zehn. Sie hörte die Wanduhr ticken und den Kühlschrank leise summen. »Wahrhaftig, der Fluch der Flannerys«, flüsterte sie. Ihre verteufelt gut aussehenden Brüder mit dem hinreißenden Lächeln schienen einer wie der andere jeglichen Ärger magisch anzuziehen. Sie selbst – das einzige Mädchen in der ›Brut‹, wie ihr Vater Patrick seinen Nachwuchs zu bezeichnen pflegte – ähnelte ihren Brüdern zwar äußerlich weniger, sondern schlug mit ihrer zierlichen Figur, der unbändigen kastanienbraunen Lockenmähne und den grünen Augen eher nach ihrer Mutter Maureen. Aber während diese zeitlebens geradezu zerbrechlich wirkte und bei der Geburt der Zwillinge beinahe gestorben wäre, war Shannon eigensinnig und sportlich wie ihre Brüder und bereitete ihren Eltern nicht weniger Kummer als diese. Maureen war eine gottesfürchtige Frau, die sich fest an die strengen katholischen Glaubensvorschriften hielt und ihre Kinder häufig warnte, dass der Teufel nie fern sei. Die Jungen jedoch – bis auf Oliver vielleicht – hatten ihre fürchterlichen Warnungen vor Sünde und Strafe in den Wind geschlagen. Und Shannon trat zum Entsetzen ihrer Mutter in die Fußstapfen ihrer Brüder, indem sie so ziemlich alle Regeln übertrat. Es brach ihrer armen Mutter das Herz. Das Schlimmste war natürlich, dass sie schwanger wurde, ehe sie verheiratet war.
Shannon spürte wieder den Stich im Herzen, als sie sich daran erinnerte, wie ihr Vater an dem Abend, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, die Schultern hängen ließ. Er stand im Wohnzimmer, eine erloschene Zigarre zwischen den Lippen, mit dem Rücken zu ihr an einen Fensterrahmen gelehnt. Doch sie sah sein Gesicht in der Glasscheibe gespiegelt, die Augen kalt und hart vor Hass, die Haut hochrot angelaufen. »Ich bringe ihn um«, donnerte er.
»Nein, Dad«, flüsterte Shannon und kämpfte gegen die Tränen an. »Das tust du nicht.«
»Dieser erbärmliche Schuft muss dich heiraten.«
»Ausgeschlossen«, wehrte sie ab. »Er will mich nicht. Er will das Kind nicht, und deshalb will ich ihn nicht. Es wird keine Hochzeit geben.«
Ihre Mutter saß
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