Deborah Crombie - 03 Und Ruhe in Frieden 04 Kein Grund zur Trauer
unversehens in ein Schwelgen in Erinnerungen, das damit endete, daß sie sich kichernd die Tränen aus den Augen wischten. »Wenn man sich vorstellt, wie naiv wir damals waren«, sagte Jackie schließlich und schneuzte sich die Nase. »Manchmal denke ich, es ist ein Wunder, daß wir überlebt haben.« Sie musterte Gemma einen Moment, dann sagte sie ernst werdend: »Es tut richtig gut, dich wieder mal zu sehen, Gemma. Du hast in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt und du hast mir gefehlt.«
Rob hatte für Gemmas Freunde nichts übrig gehabt, am wenigsten für die von der Polizei, und nach einer Weile hatte ihr einfach die Energie für die Auseinandersetzungen gefehlt, die Kontakten mit ihnen unweigerlich gefolgt waren. Und er hatte auch nichts über ihr Leben vor ihrer gemeinsamen Zeit wissen wollen, so daß allmählich selbst ihre Erinnerungen zu verblassen schienen, weil sie niemals belebt wurden.
»Ich habe das Gefühl, ich habe in den letzten Jahren Teile meines Lebens einfach verloren«, sagte sie langsam. »Vielleicht ist es an der Zeit, daß ich sie wieder zusammensuche.«
»Dann komm doch bald mal zu uns zum Essen«, meinte Jackie. »Susan würde sich auch freuen, dich zu sehen. Wir trinken eine Flasche Wein auf unsere vergeudete Jugend - und erinnern uns an die Zeiten, als wir uns höchstens den billigsten Fusel auf dem Markt leisten konnten.« Sie stand auf und ging zum Fenster. »Wie komisch«, sagte sie beinahe geistesabwesend, »mir ist gerade eingefallen, daß ich Commander Gilbert vor kurzem noch mal gesehen habe. Wahrscheinlich ist es mir in Zusammenhang mit dem Wein eingefallen. Ich kam nämlich gerade aus dem Spirituosengeschäft in der Portobello Road, als ich Gilbert stehen sah. Er sprach mit so einem westindischen Mann, der ein bekannter Informant ist. Zumindest glaubte ich, es wäre Gilbert, aber dann kam ein Lastwagen und hat mir die Sicht versperrt, und als die Ampel umschaltete, waren die beiden verschwunden.«
»Du bist dem nicht nachgegangen?«
»Du bist zu lange bei der Kripo, mein Engel«, erwiderte Jackie erheitert. »Bei wem hätte ich mich denn erkundigen sollen? Bei Gilbert vielleicht? Ich werd’ mich hüten, meine Nase in die Angelegenheiten meiner Vorgesetzten zu stecken! Trotzdem«, sie drehte sich nach Gemma um und lächelte, »es kann vielleicht nicht schaden, mal ein Wörtchen mit gewissen Leuten zu reden. Ich geb’ dir Bescheid, wenn was Interessantes dabei rauskommt, okay?«
Gemma haßte die Rolltreppe an der U-Bahnhaltestelle Angel. Es war bestimmt die längste und steilste in ganz London, und der Gedanke daran, jeden Morgen dieser schwindelerregenden Abfahrt ausgesetzt zu sein, hatte sie beinahe davon abgehalten, ihre neue Wohnung anzumieten. Wenigstens, sagte sie sich, die Hand fest auf dem Geländer, war die Auffahrt nicht so schlimm wie die Abfahrt - vorausgesetzt, man blickte nicht rückwärts.
Eine Plastiktüte klatschte Gemma gegen die Beine, als sie auf die Straße hinaustrat. Sie bückte sich, um sie abzustreifen, und sah, daß der Wind die ganze Islington High Street hinunter Abfälle vor sich hertrieb. Ein Zeitungsblatt klebte an einem Lampenmasten in der Nähe, und eine Plastikflasche kollerte scheppernd den Bürgersteig entlang. Wieder einmal war die Müllabfuhr nicht gekommen. Gemma runzelte verärgert die Stirn. Sie hatte ganz bestimmt nicht die Zeit, sich darüber beim Bezirksrat zu beschweren.
Der Anblick des Schwarzen, der auf der Bank neben dem Blumenstand saß, riß sie aus ihrer Verstimmung. Klein und gebrechlich wirkend vor dem gewaltigen Glasbau hinter ihm saß er da, eine in braunes Papier verpackte Whiskyflasche an die Brust gedrückt, und sah vor sich hin. Seine zerlumpten Kleider sahen aus, als seien sie einst von guter Qualität gewesen, doch sie schützten ihn kaum vor dem kalten Wind, der ihm die Tränen in die rotgeränderten Augen trieb.
Sie kaufte am Stand einen Strauß gelber Nelken, drückte das Wechselgeld dem Penner in die Hand, ehe sie über den Zebrastreifen eilte. Zurückblickend sah sie ihn mit dem Kopf wackeln wie ein Aufziehspielzeug, während er ihr Unverständliches nachrief. Als Neuling bei der Polizei jung und unerfahren, hatte sie beinahe automatisch die Verachtung ihrer Eltern für die, die »doch nur was zu arbeiten brauchen, wenn sie’s besser haben wollen«, geteilt. Doch schnell hatte sie gelernt, daß die Dinge fast niemals so einfach lagen. Für manche dieser Menschen
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