Deborah Crombie - 03 Und Ruhe in Frieden 04 Kein Grund zur Trauer
entwirrte sich schnell genug - einfach ein Haufen Leute, die alle zu gleicher Zeit in entgegengesetzte Richtungen wollten -, und sie konnte wieder ihren eigenen Gedanken nachhängen. In den Jahren täglichen Streifendienstes hatte sie die Fähigkeit entwickelt, ihr Bewußtsein zu spalten. Die eine Hälfte war stets hellwach, auf alles gerichtet, was um sie herum vorging, reagierte auf die Grüße von Vorüberkommenden und Ladeninhabern, die sie kannten, sichtete und prüfte, vermerkte jeden, der ein wenig zu auffällig herumlungerte, während die andere Hälfte ihres Bewußtseins ein völlig eigenes Leben führte, von Tagträumen und inneren Monologen erfüllt.
Sie dachte an ihr unerwartetes Zusammentreffen mit Gemma am vergangenen Tag. Wenn sie auch zugeben mußte, daß sie die Freundin ein wenig um ihre Stellung als Sergeant bei der Kriminalpolizei beneidete, hatte sie doch nie andere Ambitionen gehabt, als täglich ihre Streife zu gehen. Sie hatte ihren Platz gefunden und fühlte sich wohl dabei.
Sie hätte allerdings nichts dagegen gehabt, Gemmas Figur zu haben, dachte sie mit einem Lächeln, als sie an der homöopathischen Apotheke vorüberkam und Mr. Dodd, den Inhaber, grüßte. Aber, dachte sie, als sie um die Ecke bog und vor sich schon die freundliche rote Markise des Backwarenstands leuchten sah, Gemma schien dünner zu sein als früher, und ihr Gesicht hatte etwas Durchsichtiges, als wäre sie stark überanstrengt. Jackie vermutete, daß dies nicht ausschließlich an der Arbeit läge, aber sie war noch nie der Mensch gewesen, der andere ausfragte.
Ein paar Minuten später stand Jackie, in der einen Hand den Pappbecher mit dem dampfenden Tee, in der anderen ihr einsames Kuchenteil, an die Backsteinmauer des Stands gelehnt und beobachtete das Treiben auf der Straße. Sie zwinkerte verdutzt, als sie rotes Haar aufleuchten sah, dann ein vertrautes Gesicht, das ihr mit der Menschenmenge entgegengetrieben wurde. Eigentlich, dachte sie, hätte sie überrascht sein müssen, aber sie hatte das merkwürdige Gefühl, daß dieses zweite Zusammentreffen etwas Unvermeidliches war. Sie winkte, und einen Augenblick später war Gemma bei ihr.
»Ich habe eben an dich gedacht«, sagte Jackie. »Kann es sein, daß ich dich herbeschworen habe, oder ist das so ein Zusammentreffen, von denen man in den Revolverblättern immer liest?«
»Ich glaube, zum Geist aus der Flasche bin ich nicht geeignet«, versetzte Gemma lachend. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und der Wind hatte kleine krause Strähnen ihres Haars aus dem festgeflochtenen Zopf gezerrt. »Daß wir uns hier treffen, ist deinem Chef zu verdanken. Der weiß anscheinend zu jeder Minute genau, wo du bist.« Sie musterte Jackies Brötchen und pickte sich eine Rosine heraus. »Hm, das sieht verlockend aus. Da läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Weißt du, eines lernst du bei der Kripo - wann immer sich eine Gelegenheit zu essen bietet, pack sie beim Schopf.«
Während Gemma das Angebot des Stands überflog, musterte Jackie sie. Gemmas lose geschnittener rostroter Blazer und die hellen Jeans waren von einer lässigen Eleganz, wie Jackie sie trotz aller Bemühungen nie erreichte.
»Schick siehst du aus«, sagte sie, als Gemma Tee und ein Croissant mit Käse und Schinken bestellt hatte. »Ich hab’ wahrscheinlich einfach keinen Geschmack, drum renn ich am liebsten in Uniform rum.« Kauend fügte sie hinzu: »Du siehst heute übrigens viel besser aus, frischer und so. Ich hatte gerade daran gedacht, daß du mir gestern ein bißchen fertig erschienen bist.«
»Ich habe heute nacht auch hervorragend geschlafen«, erwiderte Gemma heiter, doch sie senkte den Blick und drehte an dem Ring, den sie an ihrer rechten Hand trug. Dann lächelte sie strahlend und wechselte das Thema, und sie schwatzten über Gott und die Welt, bis Gemma ihr Croissant bekam.
Als Gemma die ersten Bissen gegessen und dazu von ihrem Tee getrunken hatte, sagte sie: »Jackie, was weißt du eigentlich über Gilbert und David Ogilvie?«
»Ogilvie?« Jackie überlegte einen Moment. »Waren er und Gilbert nicht Partner? Das war vor unserer Zeit, aber ich glaube, es gab mal Gerüchte, daß es zwischen ihnen böses Blut gegeben hat. Warum fragst du?«
Gemma berichtete ihr, was sie über Stephen Penmarics Tod erfahren hatten, und fügte hinzu: »Anscheinend haben also beide, Gilbert und Ogilvie, Claire damals bei den Ermittlungen kennengelernt. Zwei
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