Deborah Crombie - 03 Und Ruhe in Frieden 04 Kein Grund zur Trauer
heraustrat, blickte er nach Nordwesten, in Richtung Northend, zu der Anhöhe, auf der unter dem dunklen Laubdach der Buchen verborgen das Haus der Ashertons stand. Was hatte Julia in dieses Haus zurückgezogen? An der Abzweigung nach Northend blieb er stirnrunzelnd stehen. Ein roter Faden zog sich durch diesen Fall, den er nicht recht zu fassen bekam - immer, wenn er glaubte zupacken zu können, entzog er sich ihm, ähnlich wie es einem ergeht, wenn man die Ranke einer Unterwasserpflanze zu erhaschen sucht.
Inmitten der geduckten kleinen Häuser von Turville lockte das Bull and Butcher, doch Kincaid widerstand der Versuchung eines kühlen Biers und marschierte weiter, in die Felder hinaus. Bald gelangte er auf die Straße, die nach Fingest führte. Die Sonne war hinter den Wipfeln der Bäume verschwunden, und ihr Licht fiel schräg, von Blättern und Zweigen gebrochen, zwischen den Stämmen hindurch.
Als der nun schon vertraute Turm der Kirche von Fingest in Sicht kam, hatte Kincaid zwei Entschlüsse gefaßt. Er würde die Kollegen von Thames Valley bitten, Kenneth Hicks vorzuführen, dann würde man sehen, wie lange seine dreiste Störrischkeit in einem amtlichen Vernehmungszimmer vorhielt.
Und er würde noch einmal mit Sharon Doyle sprechen.
Als Kincaid ins Chequers zurückkam, mit Matsch an den Schuhen, wie Tony prophezeit hatte, und angenehm müde von seiner Wanderung, hatte Gemma noch nichts von sich hören lassen. Er rief im Yard an und hinterließ beim diensthabenden Beamten eine Nachricht für sie. Sobald sie in London fertig sei, solle sie wieder zu ihm nach Fingest kommen. Er wollte sie bei seinem Gespräch mit Hicks dabeihaben. Und in Anbetracht von Hicks’ offensichtlicher Abneigung gegen Frauen, dachte Kincaid mit einem Lächeln, würde es sich vielleicht lohnen, sie das Gespräch führen zu lassen.
In Henley ließ Kincaid seinen Wagen in der Nähe der Polizeidienststelle stehen und ging zu Fuß die Hart Street hinunter, immer den Turm der Marienkirche vor Augen, die trutzig und stolz den Mittelpunkt des Ortes bildete. Die Church Avenue lag halb versteckt im Schatten ihres Turms, an den Friedhof angrenzend. Ein Schild, das in das Mauerwerk eingelassen war, besagte, daß die Reihe von Armenhäusern 1547 von John Longland, Bischof von Lincoln, gestiftet und 1830 wieder erbaut worden war.
Die Häuschen waren unerwartet hübsch, mit blaßgrün gestrichenen Mauern und leuchtendblauen Türen. Spitzenvorhänge hingen in jedem Fenster. Kincaid klopfte an der Tür mit der Nummer, die Sharon Doyle ihm angegeben hatte. Von drinnen waren die Geräusche eines Fernsehapparats zu hören und schwach die Stimme eines Kindes.
Er hatte gerade die Hand erhoben, um noch einmal zu klopfen, als Sharon die Tür öffnete. Wären nicht die leuchtendblonden Locken gewesen, er hätte sie kaum wiedererkannt. Sie war nicht geschminkt, nicht einmal ihre Lippen waren gefärbt, und ihr nacktes Gesicht wirkte jung und verletzlich. Statt der aufgedonnerten Klamotten hatte sie ein verwaschenes Sweat-shirt an, Jeans und schmutzige Tennisschuhe, und in den wenigen Tagen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, schien sie sichtlich dünner geworden zu sein. Zu seiner Überraschung schien sie auch rührend erfreut zu sein, ihn zu sehen.
»Superintendent! Was tun Sie denn hier?« Mit verschmiertem Mund und zerzaustem Haar schob sich das Kind, das Kincaid von dem Foto kannte, neben Sharon und hängte sich an das Bein seiner Mutter.
»Hallo, Hayley«, sagte Kincaid in die Hocke gehend. Er blickte zu Sharon hinauf und fügte hinzu: »Ich wollte mal sehen, wie es Ihnen geht.«
»Ach, kommen Sie doch herein«, sagte sie und trat zur Seite, etwas behindert von dem Kind, das sich fest an ihr Bein klammerte. »Hayley war gerade beim Essen, stimmt’s, Schatz? In der Küche, mit Grannie.«
Jetzt, da sie Kincaid ins Wohnzimmer geführt hatte, schien sie nicht zu wissen, was sie mit ihm anfangen wollte, stand nur da und streichelte das Lockengewirr des Kindes.
Kincaid sah sich mit Interesse in dem kleinen Raum um. Spitzendeckchen und dunkle Möbel, Lampenschirme mit Fransen und ein Geruch nach Lavendelwachs, alles so sauber und ordentlich wie in einem Museum. Das Geräusch des Fernsehgeräts war nur wenig lauter als von draußen, die Innenwände des Hauses waren offenbar stabil gebaut.
»Gran hat den Fernseher gern in der Küche«, bemerkte Sharon. »Da sitzt man gemütlicher, gleich beim
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