Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Kompromiß einzugehen. Sie würde Kincaid von ihrer Begegnung mit Gordon Finch erzählen, allerdings ganz beiläufig wie eine Nebensächlichkeit und erst bei passender Gelegenheit. Und falls sie nach der Unterhaltung mit Finch die Notwendigkeit erkennen sollte, dann wollte sie ihn auch ganz offiziell vorladen lassen.
Als sie den Eingang zum Millwall Park erreichte, machte sie einen kleinen Umweg und starrte durch den schmiedeeisernen Zaun auf die verwaiste Bowlingbahn und das kompakte Gebäude der Bürger Vereinigung der Docklands. Sie schätzte, daß es das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Arbeiterschicht auf der Insel war und daß Gordon Finch sicherlich zum Stammpublikum gehörte. Trotzdem hatte sie Mühe, sich den Straßenmusiker bei gesellschaftlichen Aktivitäten jedweder Art vorzustellen, selbst wenn sie einem politischen Ziel dienen sollten.
Gemma setzte ihren Weg fort, und schon nach wenigen Metern hörte sie jemanden Klarinette spielen. Sie folgte dem Klang des Instruments quer über die Straße und zu einem braunen Backsteinhaus am Ende der Häuserreihe. Die Musik kam aus einem offenen Fenster im ersten Stock, und während sie draußen stand und zuhörte, glaubte sie, in der Melodie ein Stück von Mozart zu erkennen, das sie - von Gordon Finch gespielt - bereits in der Liverpool Road gehört hatte.
An der Längsseite des Hauses befanden sich zwei blau gestrichene Türen. Die erste trug die Hausnummer, die Janice ihr genannt hatte. Offenbar bewohnte Gordon Finch den oberen Stock. Sie bediente den Türklopfer. Ein Hund schlug an. Erst als das Spiel der Klarinette abrupt endete, wurde ihr klar, daß sie keine Ahnung hatte, was sie ihm sagen wollte.
Dann wurde die Tür plötzlich geöffnet. Gordon Finch starrte sie an. Er wirkte alles andere als begeistert, war barfuß und hatte nur ein ärmelloses T-Shirt über den Jeans an. Sonnenlicht fing sich in seinem goldenen Ohrring und den rotblonden Bartstoppeln seines Kinns.
»Die Lady von der Polizei«, sagte er mit einem Blick auf ihr kurzes Kleid und die nackten Beine.
Gemma war sich plötzlich bewußt, daß sie nur BH und Slip unter dem dünnen Stoff trug. Sie fühlte sich weder beruflich noch privat der Situation gewachsen und fragte sich verwundert, weshalb Strumpfhosen einer Frau das' Gefühl der Unbesiegbarkeit gaben.
»Auf die Idee, daß Sie bei den Bullen sind, wäre ich wirklich nie gekommen. Ist das ein Höflichkeitsbesuch, oder sind Sie auf dem Kriegspfad?« Sein Ton machte deutlich, was er von ihrem Beruf hielt.
Gemma zückte hastig ihre Dienstmarke, um einen letzten Rest Autorität zu wahren. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Finch«, erklärte sie energisch.
Gordon Finch neigte mit gespielter Höflichkeit den Kopf und deutete auf die Treppe. »Bitte ... treten Sie näher.« Er machte einen Schritt zurück. Als Gemma an ihm vorbei ins Haus ging, war sie ihm einen Moment so nahe, daß sie die Wärme seines Atems auf ihrer Haut spürte. Das Klappern ihrer Sandalen auf der Treppe aus rohem Holz hallte unnatürlich laut in ihren Ohren wider. Er folgte ihr schweigend auf nackten Sohlen.
Auf dem oberen Treppenabsatz ging sie, ohne stehen zu bleiben, weiter durch die geöffnete Tür und landete augenblicklich in der Mitte der Einzimmerwohnung, was ihr die Möglichkeit gab, sich einen Moment ungestört umzusehen.
Gordon Finchs Hund, Sam, lag auf einem runden Kissen vor dem offenen Fenster. »Hallo, mein Junge«, murmelte sie. »Kennst du mich noch?«
Der Hund reckte kurz den Hals, sah Gemma an, senkte den Kopf wieder auf die Pfoten und seufzte. Offenbar hatte sie keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Das große Zimmer war Wohn- und Schlafraum zugleich. An der Rückseite befand sich eine Kochnische mit einem kleinen Kieferntisch und zwei Stühlen. Im vorderen Teil stand ein Bett mit einem Baumwollüberwurf in grellen Rot- und Vio-lettönen.
»Na? Findet alles Ihre Zustimmung?« fragte Gordon Finch hinter ihrem Rücken. Als Gemma sich umdrehte, fügte er hinzu: »Was hatten Sie erwartet? Bierdosen und Müll?«
In einem Bücherregal stand ein CD-Player. Ein Fernseher war nirgends zu sehen. Vor dem Fenster war ein Notenständer aufgebaut. Seine Klarinette ragte zur Hälfte aus dem Kasten auf dem Fußboden, und die Notenblätter auf dem Ständer raschelten leise, was wie ein Seufzen klang. Alles in dieser Wohnung war ordentlich und
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