Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
sauber und wirkte trotz der spärlichen Möblierung ausgesprochen gemütlich.
»Hören Sie, Mr. Finch. Ich bin nicht hier, um...«
»Mr. Finch?« äffte er sie spöttisch nach. »Warum haben Sie gestern auf dem Revier nichts gesagt?« Er stand mit dem Rücken zur Tür, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Wie bitte?«
»Sie wissen genau, was ich meine. Man hätte denken können, wir hätten uns noch nie im Leben gesehen.«
Gemma starrte ihn an. »Was, bitteschön, heißt das? Soweit ich mich erinnere, haben wir nur einmal ein paar Worte gewechselt. Und dabei haben Sie mich behandelt wie eine Aussätzige. Sollte ich Sie deshalb als alten Freund vorstellen, oder was?« Sie war hergekommen, um ihm eine Verschnaufpause zu verschaffen, und er hatte sie sofort in die Defensive gedrängt. Wütend fügte sie hinzu: »Außerdem haben Sie uns angelogen.«
»Inwiefern?« Er machte einen Schritt auf sie zu. Gemma wich instinktiv zurück, und der Gedanke durchzuckte sie, daß dieser Besuch vielleicht doch keine so gute Idee gewesen sein könnte. Gordon Finch griff jedoch nur nach der Packung Zigaretten auf dem Tisch neben dem Bett und zog eine Zigarette heraus.
»Sie haben behauptet, Annabelle Hammond nicht zu kennen und an jenem Abend nicht mit ihr gesprochen zu haben«, fuhr sie fort, während Gordon eine Zigarette anzündete. Augenblicklich breitete sich ein durchdringend riechender Nikotindunst im Zimmer aus.
»Und?« Seine saloppe Antwort verfehlte ihre Wirkung, denn er vermied es, sie dabei anzusehen. Er löschte das Streichholz mit einer schnellen Handbewegung.
Gemma schüttelte enttäuscht den Kopf. »Wir besitzen die Videobänder der Überwachungskameras. Ich habe sie mir angesehen. Annabelle ist stehengeblieben und hat mit Ihnen gesprochen.«
Während die Zigarette in seinem Mundwinkel baumelte, bückte er sich und nahm die Klarinette aus dem Kasten. »Das beweist gar nichts.«
Gemma war nicht entgangen, daß er kurz zusammengezuckt war, bevor er seine Reaktion mit dem Griff nach der Klarinette zu vertuschen suchte. »Es beweist immerhin, daß Sie Annabelle kurz vor ihrem Tod gesehen haben ... und offenbar eine Meinungsverschiedenheit mit ihr hatten.«
Das Instrument in der Hand, setzte sich Gordon Finch auf die Bettkante. »Kommt häufig vor, daß völlig fremde Personen an meinem Klarinettenspiel Anstoß nehmen. Oder an meinem Aussehen. Macht das schon einen Verdächtigen aus mir?«
Er zog noch einmal an der Zigarette und drückte sie in einem kleinen Aschenbecher aus Wedgwood-Porzellan aus. Den Blick auf die Klarinette gerichtet, spielte er mit den Tasten. Sie wartete stumm. Endlich hielten seine Finger still. Er sah zu ihr auf. »Was auch immer zwischen Annabelle und mir gewesen ist, geht niemanden etwas an.«
»Jetzt schon, denn es geht um einen Mord.«
»Mit Annabelles Tod habe ich nichts zu tun. Und was zwischen uns war, hatte auch nichts mit ihrem Tod zu tun.«
»Ist es Ihnen denn völlig egal, wie sie gestorben ist?« wollte Gemma wissen. »Jemand hat Annabelle Hammond umgebracht, und ich vermute, daß sie ihren Mörder gekannt und ihm vertraut hat.«
»Warum? Wie kommen Sie darauf? Sicher ist es irgendein ... Sie haben gesagt, daß man sie am Park gefunden hat. Wie ist sie ...«
Gemma hatte Gordon Finch bisher als ausgesprochen wortkarg erlebt. Jetzt schien es ihm völlig die Sprache verschlagen zu haben. »Die Todesursache steht noch nicht hundertprozentig fest. Aber ich kann Ihnen verraten, daß wir kaum Spuren von einem Kampf gefunden haben. Außerdem war es offenbar kein Sexualverbrechen.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Und der Mörder hatte sich Mühe gegeben, die Tote liebevoll ... zurechtzulegen.«
»Zurechtzulegen?« Er starrte sie an. »Wie zurechtzulegen?«
Gemma hatte keine Ahnung, ob Details wie diese ihn mehr quälen konnten als das, was er sich in seiner Phantasie ausgemalt hatte. Trotzdem wußte sie, daß sie bereits zuviel gesagt hatte und sich vor Kincaid dafür rechtfertigen mußte. »So ... als wollte er ihre Menschenwürde bewahren«, antwortete sie schließlich, um Zeit zu gewinnen. »Sie wirkte noch im Tod friedlich ... geradezu heiter.«
»Annabelle und friedlich? Das ist in sich schon ein Widerspruch.« Er stand auf und zündete die nächste Zigarette an.
»Warum? Wie ist sie denn gewesen?«
Er zog stirnrunzelnd an seiner Zigarette, bis deren Ende orangerot
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