Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
so wimmelte. Sie kamen zu Hunderten. Schwer beladene Bomber in Begleitung von Jagdgeschwadern schwirrten in majestätisch exakten Formationen auf London zu.
Als die letzte Maschine in der Ferne verschwunden war, machten sie kehrt und radelten zum Herrenhaus zurück, als sei der Teufel hinter ihnen her. Sie fanden alle, sogar Edwina, vor dem Radio in der Küche versammelt, wo sie auf Nachrichten warteten. Die Berichte waren chaotisch und widersprüchlich, doch während die Stunden vergingen, wurde Lewis’ Angst zur schrecklichen Gewißheit.
Gegen Abend goß die Köchin frischen Tee auf, schmierte ein paar belegte Brote und bestand darauf, daß sie etwas aßen. Während der Woche war die Katze irgendwie an die Butterration gelangt, so daß Bratenfett als Brotaufstrich herhalten mußte, und was als Trost gemeint war, weckte in Lewis nur die schmerzliche Erinnerung an zu Hause. Er schob den Teller von sich und rannte blindlings aus der Küche.
Lewis suchte Zuflucht im Stall. Im Lauf der Monate hatte er häufig Trost in den Gerüchen und Geräuschen der Tiere gesucht. So ließ er sich auch jetzt auf den Strohballen neben Zeus’ Box nieder und fiel in einen erschöpften Schlaf.
Er erwachte in der Dunkelheit, wußte im ersten Moment nicht, wo er war, hörte Williams Stimme und fühlte seine Hand, die ihn wachrüttelte.
»Lewis, wach auf! Es ist das East End! Sie haben’s im Radio gebracht. Die Deutschen haben die Docks bombardiert.«
»Was?« Lewis richtete sich auf. Sein Mund war wie ausgetrocknet.
»John war auf dem Leith Hill. Man konnte es von dort sehen, jetzt ist alles dunkel.«
»Was sehen?« wiederholte Lewis begriffsstutzig. Sein Gehirn wollte den Sinn der Worte nicht begreifen.
»Das Feuer. Das East End brennt, Lewis. London brennt.«
* 12
Die Docks waren aus der Luft unschwer zu erkennen und wurden mehr als jedes andere zivile Ziel angegriffen. Fast tausend Sprengbomben und Tausende von Brandsätzen wurden abgeworfen und große Teile der Wohngebiete in den »Docklands« verwüstet. Während des gesamten Blitzkriegs starben 30 000 Menschen. Wenig mehr als die Hälfte der Opfer hatte London zu beklagen, und ein hoher Prozentsatz davon starb in den »Docklands«.
Paul Calvocoressi, aus: Docklands, ein illustrierter historischer Überblick
»Worüber wollten Sie mit mir reden?« fragte Teresa Robbins, als sie an den Tisch an der Rückwand ihres Büros trat. Der lange Zeichentisch stand direkt unter den Fenstern und enthielt Tassen, Teekanne und elektrischen Wasserkocher sowie Schüsseln und Büchsen, die Gemma mittlerweile mit der Verkostung von Tee in Verbindung brachte. »Ich koche uns eine Tasse Tee, ja?« fügte Teresa hinzu und sah über die Schulter zu Gemma.
»Nur ein paar Routinefragen«, antwortete Gemma und erwiderte das Angebot einer Tasse Tee mit zustimmendem Nicken. Sie beobachtete, wie Teresa den Kessel mit Mineralwasser füllte. Ihre Hände schienen leicht zu zittern, was ihre beherrschte Miene Lügen strafte.
Nachdem Gemma Kincaid im Limehouse-Revier verabschiedet hatte, war sie kurz nach Arbeitsbeginn in der Firma Hammond’s erschienen, um Teresa erneut zu vernehmen.
Im Gegensatz zu Mortimers Büro war der Raum, den Teresa und Annabelle sich geteilt hatten, groß genug für zwei Schreibtische. Sie standen einander gegenüber, und in der Mitte führte ein breiter Mittelgang hindurch. Der pseudobüromäßige Stilmix aus Mortimers Zimmer fehlte. Die Schreibtische waren aus schlichter Eiche, wirkten zweckmäßig und abgenutzt. Annabelles ehemalige Tischplatte war bis auf die Schreibunterlage leer.
Rot oder schwarz beschriftete Teekisten aus Holz standen entlang der Wände, und ein einfaches Bücherregal enthielt eine Sammlung von Designer-Teekannen. Der Raum roch nach Tee und ... einem dezenten Duft, den Gemma nicht ganz einordnen konnte.
Gemma setzte sich auf den Stuhl, der Teresas Schreibtisch am nächsten stand. Sie beobachtete, wie Teresa kochendes Wasser in eine einfache, weiße Porzellankanne goß, einmal umrührte und dann eine Küchenuhr stellte. »Ich wußte gar nicht, daß Teekochen nach einem genauen Zeitplan erfolgen muß«, bemerkte Gemma und deutete auf die Uhr.
»Wie bitte?« Teresa sah sie verständnislos an. »Ach so, Sie meinen die Küchenuhr.« Sie drehte sich um und lehnte sich gegen den Zeichentisch, während der Tee ziehen mußte. »Das ist das erste, das man lernt... besonders
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