Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Rückzug. In den siebziger Jahren schlossen nacheinander sämtliche noch verbliebene Fabriken ihre Tore und verlagerten ihren Standort; Gerüchte, daß auch die Docks schließen würden, wurden bald zur traurigen Wirklichkeit. Die letzten Schiffe fuhren ein und aus.
Eve Hostettler, aus: Erinnerungen an eine Kindheit
Teresa Robbins kleidete sich mit besonderer Sorgfalt. Sie zog ihr bestes, blaues Kostüm mit einer weißen Batistbluse und sogar Strümpfe an. Letztere allerdings mußte sie in der tropisch feuchten Hitze des Morgens mit Hilfe von Körperpuder überstreifen. Wenigstens war der Himmel bedeckt, soweit das Auge reichte, und man durfte hoffen, daß das Wetter gegen Ende des Tages umschlagen und Kühlung bringen würde.
Sie gab sich redlich Mühe mit dem Make-up und verschaffte der Frisur in letzter Minute mit etwas Haarspray Halt. Trotzdem fühlte sie sich wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt werden sollte, und erinnerte sich energisch daran, welche Qualen sie in der vergangenen Woche bereits überstanden hatte. Schlimmer konnte es kaum werden.
Zuerst hatte sie geglaubt, Annabelles Tod übersteige alles, was sie ertragen könne ... bis zu dem Augenblick, da Annabelle als Lügnerin und Betrügerin entlarvt wurde. Und dann hatte sie sich auch noch in die Idee verrannt, Reg und sie könnten sich gegenseitig Trost spenden ... bis ihr klargeworden war, daß Reg sie für seine feige Rache an Annabelle mißbraucht hatte.
Schon am Vortag war Teresa innerlich auf einen Zusammenstoß mit Reg vorbereitet gewesen, aber er war erst gar nicht in der Firma erschienen, und sie war nach einem harten Tag, den sie mit der Erstellung des schwierigen Finanzberichts für die heutige Sitzung zugebracht hatte, nach Hause gefahren.
Während sie von der Island Gardens Station aus die Saunders Ness entlangging, dachte sie darüber nach, ob sie sich wohl je überwinden konnte, für Reg zu arbeiten ... vorausgesetzt, man bestimmte ihn zum Geschäftsführer, und ob sie bei Hammond’s kündigen sollte, wenn man einen Außenseiter in die Firma holte.
Dann betrat sie den alten Lagerspeicher, atmete die vertraute Geruchsmischung aus Motoröl, Staub und das alles beherrschende Aroma von Tee ein, und die Vorstellung, das alles aufzugeben, kam ihr abwegig vor.
William erschien als erster. Er wirkte streng und ernst, aber gebrechlich, dann kam Sir Peter, wie immer adrett und fröhlich, schließlich tauchte Jo auf, und als letzter trat Martin Lowell ein, dem Teresa bislang noch nie begegnet war. Sie musterte ihn neugierig, vermochte allerdings die Miene des gutaussehenden Mannes mit dem südländischen Flair nicht zu deuten.
Reg ließ sich erst blicken, nachdem alle in Teresas und Annabelles Büro versammelt waren, und trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, konnte sich Teresa ihrer besorgten Gefühle für ihn nicht erwehren. Er sah erschöpft, wenn nicht sogar krank aus. Kaum hatte er sich auf einen der im Halbkreis um die Schreibtische herum angeordneten Stühle gesetzt, schloß er die Augen.
William eröffnete die Sitzung, und als Teresa ihren Bericht vortrug, spürte sie Martin Lowells prüfende Blicke auf sich ruhen.
Nachdem sie geendet hatte, herrschte einen Augenblick Stille. Nach einem Blick auf William, der nickte, sah Sir Peter in die Runde und begann: »Offensichtlich gibt es viele Punkte, die angesprochen werden müssen. Heute allerdings gilt unsere Hauptsorge der Entscheidung über einen neuen Geschäftsführer. So sehr uns dieser Verlust auch getroffen hat, müssen wir doch an die Zukunft der Firma Hammond’s denken ...«
»Vorausgesetzt, es gibt sie überhaupt ... diese Zukunft«, fiel Martin Lowell ihm ungeduldig ins Wort. Er vergewisserte sich mit einem Blick, daß ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit der anderen sicher war, und fuhr fort: »Es liegt auf der Hand, daß die Firma vor einer finanziellen Krise steht. Und da meine Kinder mittlerweile einen beachtlichen Anteil an dem Unternehmen besitzen - dank Annabelles Großzügigkeit -, bin ich entschlossen, dem entgegenzuwirken.« Er lächelte. Alle sahen ihn wie hypnotisiert an. Sogar Peter Mortimer, der sich sonst nie aus der Ruhe bringen ließ, schien wie erstarrt.
Jo erholte sich als erste. »Ich bitte dich, Martin. Du kannst dich hier nicht einfach aufplustern, als gehöre dir die verdammte ...«
»Für dich steht genausoviel auf dem Spiel wie für alle anderen, Jo. Deine finanzielle
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