Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Blätter.
»Wir haben ein Telegramm bekommen«, begann seine Mutter behutsam mit ruhiger Stimme. »Ein Nachschubkonvoi und die Marineeskorte wurden im Nordatlantik angegriffen ...«
»Ist es Tommy? Oder Edward?« fiel Lewis ihr ins Wort. Die Ahnung dessen, was kommen mußte, schnürte ihm die Kehle zu. Er hörte ein leises Rauschen in den Ohren, und unwillkürlich kamen ihm die Namen deutscher Schlachtschiffe in den Sinn, die er in der Zeitung gelesen hatte: Scharnhorst, Gneisenau, Admiral Scheer.
Seine Mutter antwortete nicht. Als Lewis endlich wagte, sie anzusehen, starrte sie unverwandt ins Tal, das Gesicht unbeweglich, bis auf das Zucken eines Nervs am Mundwinkel.
»Nein.« Lewis versuchte, es hinauszuschreien, aber der Nebel schien seine Worte zu erfassen und zu dämpfen.
»Deine Brüder waren nur zehn Monate auseinander«, sagte seine Mutter bedächtig. »Und sie wollten von Anfang an nur zusammen sein.« Endlich wandte sie sich ihm zu und berührte seine Wange mit kalten Fingerspitzen. »Oh, Lewis, ich fürchte, das ist der einzige Trost, den wir haben.«
Anfangs, als Gemma in die Garagenwohnung der Cavendishs gezogen war, die nur eine winzige Dusche hatte, hatte Hazel ihr freimütig die Nutzung der Badewanne im Haus angeboten. Gemma hatte selten die Zeit gefunden, das Angebot wahrzunehmen, aber an diesem Abend, nachdem die Kinder gebadet und im Bett waren, war sie mit einem Handtuch, Morgenmantel und einigen CDs ins Haus hinübergegangen und hatte sich im Badezimmer eingeschlossen.
Hazel hatte einen kleinen CD-Player in einem Regal über der Badewanne und behauptete, Musik hielte nicht nur die Kinder ruhig im Bad, sondern half ihr, sich zu regenerieren, und in diesem Moment fühlte Gemma ein inständiges Bedürfnis, sich einer restaurativen Behandlung zu unterziehen. Sie ließ das Wasser ein, gab Lavendelbadeöl hinzu, zündete die Kerzen an, die Hazel aufgestellt hatte, und zögerte bei der Auswahl der Musik. Schließlich entschied sie sich für Jim Brickman, und während die Klavierklänge das Badezimmer erfüllten, zog sie sich aus und löschte das Licht.
Das Badezimmer war groß genug, um in vergangenen Zeiten als Ankleidezimmer gedient zu haben, aber Hazel war es gelungen, ihm eine heitere und gemütliche Atmosphäre zu verleihen.
Gemma ließ sich in das schäumende Wasser gleiten und zwang sich, sich auf die Musik zu konzentrieren, als wolle sie deren Reinheit und Schlichtheit in sich aufsaugen.
Unwillkürlich jedoch sah sie auf ihren Körper hinab, der halb ins Wasser eingetaucht war, und berührte ihre nackten Schultern, als könnten Gordon Finchs Fingerspitzen fühlbare Spuren auf ihrer Haut hinterlassen haben. Selbst die Erinnerung an dieses Gefühl ließ sie vor Scham erschaudern. Sie versuchte sich einzureden, daß an diesem Nachmittag eigentlich nichts zwischen ihnen vorgefallen sei, aber sie wußte, daß sie sich nahe am Abgrund der Versuchung bewegt hatte ... und wäre sie gefallen, hätte sie sowohl ihre Karriere als auch ihre Beziehung zu Duncan unwiderruflich zerstört.
So sehr sie an Gordon Finchs Unschuld glauben wollte, er war ein Verdächtiger in einem Mordfall, und ihr Benehmen war unüberlegt und gefährlich gewesen. Die Tatsache, daß sie den Verdacht hatte, daß Duncan während eines Falls, den sie im vergangenen Jahr bearbeitet hatten, etwas Ähnliches passiert war, machte das alles auch nicht besser. Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit ihr zusammen gewesen.
Sie schloß die Augen und ließ sich tiefer ins Wasser gleiten. Sie wünschte, all das abwaschen zu können, was geschehen war. Aber sie wußte, daß keine Schuld oder Reue die Verbindung ändern konnte, die zwischen ihr und Gordon Finch bestand ... eine Verbindung, von der sie nie bezweifelt hatte, daß sie auf Gegenseitigkeit beruhte, eine Verbindung, so mächtig, daß sie mit dem Gedanken gespielt hatte, alles wegzuwerfen, was ihr Leben, ihre Persönlichkeit ausmachte.
Der Gedanke jagte ihr solche Angst ein, daß Tränen unter ihren geschlossenen Lidern hervorquollen. Sie kämpfte blinzelnd und wütend dagegen an. War ihre Bindung an ihren Job und an Duncan so oberflächlich, daß sie unter dem leichtesten Druck zusammenbrach?
Konnte es sein, daß sie für sich selbst eine Fremde war?
* 13
Handel und Industrie, die als erste Arbeit und Arbeiter im 19. Jahrhundert auf das »Island« gebracht hatten, waren nun endgültig auf dem
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