Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
gestellt habe, hat sie nicht mal den Versuch unternommen, sich zu rechtfertigen. Sie behauptete, ich würde das nicht verstehen ... Und dann hat sie mich gehen lassen.«
»Aber Sie haben sie weiterhin geliebt.«
Gordon richtete sich auf. Seine Hände wirkten seltsam leer. »Nein.«
»Und an jenem Abend hat sie Ihnen gesagt, daß sie Sie liebt. Sie wollte alles wiedergutmachen. Auf dem Video aus dem Tunnel hat sie Sie geradezu angefleht.«
»Sie sagte ... sie hat gesagt, es sei ihr klargeworden, daß sie weggeworfen habe, was ihr am meisten bedeute ... aber die Tatsache, daß sie mich hier träfe, sei ein Zeichen dafür, daß es noch nicht zu spät sei... Wenn wir uns wirklich liebten, würde sich alles von selbst regeln.«
Gemma spürte, wie Kincaid hinter ihr unruhig wurde. Trotzdem sagte er kein Wort. »Sie haben sie fortgeschickt«, fuhr Gemma leise fort, ohne den Blick von Gordon zu wenden. »Sie haben ihr nicht geglaubt.« Sie hörte ihre Worte, die tonlos und dumpf aus ihrem Mund kamen, und als sie Gordon Finch ansah, waren die Einsamkeit und die Verzweiflung in seinen Augen schlimmer als Tränen. »Da war noch etwas, oder? Was hat sie noch gesagt, Gordon?«
Als er schwieg, antwortete sie für ihn: »Sie hat gesagt, daß sie es beweisen wolle, stimmt’s? Auf dem Video dreht sie sich noch einmal um - wie auf ein letztes Wort -, und da war sie noch immer wütend, beinahe trotzig. Sie wollte Ihnen ihre Liebe beweisen.«
»Spricht alles für Lewis Finch, was?« Gemma empfand bei der Aussicht keinerlei Triumph. Es war schlimm genug für Gordon, mit der Schuld eines Vaters fertig zu werden, für den er offenbar weit mehr empfand, als er zugeben wollte. Aber auch sie hatte Lewis Finch gemocht und bewundert.
»Sie wollte ihm nicht sagen, daß sie ihre Verlobung aufgelöst hatte, als sie ihn an jenem Abend angerufen hat«, bemerkte Kincaid und lenkte den Rover in den Verkehrsstrom auf der Ferry Road. »Es ging um das gemeinsame Geschäft. Deshalb klang er so wütend, als er ihr aufs Band gesprochen hat.«
»Und nicht nur um das Geschäft, sondern auch um ihre Beziehung zu ihm ... wie sollte sie weiterhin mit ihm schlafen, nach allem, was sie erfahren hatte?«
»Klingt doch so, als habe sie Lewis Finch von Anfang an für ihre Zwecke mißbraucht ...«
»Und er sie.« Gemma sah im Vorbeifahren zu den Steilhängen des Mudchute Park zu ihrer Rechten hinauf. Zu ihrer Linken glitzerte das Wasser vom Millwall Dock. »Aber das löst noch nicht die Frage, wo und wie sie sich an jenem Abend getroffen haben oder wie Lewis Finch ihre Leiche in den Park geschafft haben könnte.«
»Sein Motiv klärt es ebenfalls nicht«, überlegte Kincaid. »Scheint auf der Hand zu liegen, warum Annabelle willens war, sich beim Verkauf des Lagerspeichers gegen den Vater zu stellen. Die Firma war ihr wichtiger als alles andere. Und wenn sie glaubte, dies sei die einzige Möglichkeit, um sie zu retten ...«
»Aber warum wollte Lewis Finch jeden Preis für die Immobilie bezahlen? Und warum war er entschlossen, den Speicher abzureißen, sobald er sich in seinem Besitz befand ... Das stellt doch alles auf den Kopf, wofür er bis dahin gelebt hat.«
»Hat er vielleicht geglaubt, daß der Mord an Annabelle den Deal retten könnte?« warf Kincaid ein.
»Er konnte nicht sicher sein, was passieren würde.« Gemma runzelte die Stirn und sah auf ihre Uhr. »Willst du versuchen, ihn in seinem Büro zu erreichen? Er hat gesagt, daß er nachmittags normalerweise auf den Baustellen ist.«
Kincaid trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, während sie vor einer roten Ampel warteten. »Nein. Nicht bevor wir ihn festnageln können. Wir bitten Janice, sich diskret bei seinen Nachbarn umzuhören. Vielleicht haben die was Ungewöhnliches bemerkt.«
»Und was machen wir in der Zwischenzeit?« fragte Gemma überrascht, beugte sich jedoch der Logik seiner Ausführungen.
»Der Grund, weshalb wir uns aus Lewis Finchs Verhalten keinen Reim machen können, ist, daß wir noch nicht bis zu den Wurzeln der ganzen Geschichte vorgedrungen sind«, schlußfolgerte Kincaid nachdenklich. »Und ich glaube, diese Wurzeln liegen in der Vergangenheit... Kann doch kein Zufall sein, daß William Hammond und Lewis Finch sich während des Krieges gekannt haben oder daß sich Annabelle an Gordon Finch herangemacht hat.«
»William Hammond hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er kein Wort darüber
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