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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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aufkommende Wut nicht. »Heißt das, daß sie in die Staaten auf und davon ist, ohne sich zu verabschieden?«
      »Es ging alles ganz schnell - auf dem Standesamt und dein Vater wollte kein Aufhebens machen.« Die Augen der Mutterfüllten sich mit Tränen, und sie schob Lewis eine Schüssel zu. »Der Gemüsehändler hat mir für dich was Besonderes aufgehoben: frischen Blumenkohl.«
      Lewis, dem plötzlich übel geworden war, stieß seinen Stuhl zurück. »Entschuldigt«, murmelte er. »Ich bin nicht hungrig.«
      Die Luft draußen hatte sich zu einem frostigen Nebel verdichtet, der ihm durch die Kleider zu kriechen und auf der Haut zu kleben schien, doch er trottete im Dunkeln weiter die West Ferry Road entlang, den dünnen Mantel eng um sich geschlungen. Gegen die Kälte an seinen Hand- und Fußgelenken konnte er nichts machen. Seine Ärmel waren ebenso zu kurz wie seine Hosenbeine. Aus den wenigen Kleidungsstücken, die er für seine Marken bekommen hatte, war er bereits herausgewachsen.
      Es schien so, als könne er nichts dagegen tun, daß sich Menschen aus seiner engsten Umgebung einfach verabschiedeten, dachte er und kickte wütend eine Blechbüchse vor sich her. Ein entgegenkommender Mann bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick, bückte sich und hob die Dose auf. »Wohl noch nie was von Altmetallsammlung gehört, was, Bürschchen?« sagte der Mann heiser und drängte sich an ihm vorbei.
      Wut stieg in Lewis hoch, und er wandte sich mit erhobenen Fäusten um, doch der Mann war in der Dunkelheit verschwunden.
      Wie hatte seine Schwester sie nur verlassen können, ohne ihm wenigstens zu schreiben? Sie mußte doch gewußt haben, daß sie sich vermutlich nie Wiedersehen würden.
      Lewis ging bis zu den Island Gardens weiter, aber der Fluß blieb unsichtbar hinter der dicken Nebelwand, und er fühlte ihn nur als eisige Fläche, die seinem Körper noch mehr Wärme entzog. Schließlich machte er kehrt und lief zur Wohnung zurück, doch die Stimmung dieses Abends wollte sich auch während seines restlichen Aufenthalts in der Stadt nicht verflüchtigen.
      Seine Eltern hatten sich verändert. Er hatte den Eindruck, daß die Flucht der Schwester, so schnell nach dem Tod der Brüder, seinen sanftmütigen Vater verbittert hatte, während die Trauer'um den Verlust der Kinder die Mutter seelisch und psychisch erschöpft hatte. Und er merkte, daß auch er nicht mehr derselbe war. Wenn er seine alten Spielgefährten traf, verspotteten sie ihn wegen seiner Sprache. Ihr Leben schien sich um Kneipen und Interessen zu drehen, die ihm fremd waren. Die meisten waren mit vierzehn von der Schule abgegangen, um in der Fabrik zu arbeiten, bis sie alt genug waren, um Soldat zu werden. Und obwohl er sich wie ein Ausgestoßener fühlte, beneidete er sie - zu seiner Überraschung - nicht im mindesten.
      Die Tage schleppten sich dahin. Er dachte mehrmals an William, der direkt gegenüber am anderen Flußufer bei seinen Eltern war. Und doch schienen Welten zwischen dem »Island« und Greenwich zu liegen. Außerdem hatte William ihn nicht zu einem Besuch eingeladen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag verabschiedete er sich erleichtert und schuldbewußt zugleich von seinen Eltern und nahm den Zug zurück nach Surrey. Doch seine Freude über die Rückkehr aufs Land sollte nur von kurzer Dauer sein.
      Während er Mr. Haliburton an der Tafel beobachtete, dachte er an jenes erste Mal, als er ihn am Neujahrstag in Edwinas Salon gesehen hatte. William und Irene waren ebenfalls zurückgekehrt, und sie hatten sich alle in der Küche versammelt, Finger und Löffel zum Naschen in die Töpfe der Köchin gesteckt, während sie schimpfte und sie zu vertreiben suchte. Nach ein paar Wochen Rüben- und Kartoffelkost, knurrte Lewis der Magen beim Gedanken an den Schinken, den die Köchin ihnen als Neujahrsessen versprochen hatte. Außerdem sollte es auch Kuchen aus den eingemachten, im Herbst gepflückten Stachelbeeren geben. Er hatte sich langsam auf die Speisekammer zubewegt, um wenigstens eine Kostprobe des Nachtischs zu erhaschen, als Edwina die Küche betreten und sie gebeten hatte, ihr zu folgen.
      Als sie ins Wohnzimmer kamen, sah Lewis als erstes durch das Fenster den fremden Wagen in der Auffahrt, die Motorhaube glänzend im Regen. Dann fiel sein Blick auf den großen, hageren Mann vor dem Kamin, der ihnen den Rücken zugewandt hatte und rauchte. Er drehte sich nicht um, um sie zu begrüßen, und Lewis sah, daß seine Hand

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