Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
gestatten. Du kannst daran im Augenblick nichts ändern, Gemma.«
»Aber ich verstehe ihn ja - mir geht es nicht viel anders. Ich fühle auch eine Verantwortung gegenüber Vic«, gestand Gemma. »Ich war von Anfang an der Meinung, daß sie berechtigte Gründe hatte, nicht an Lydia Brookes Selbstmord zu glauben. Trotzdem habe ich Duncan nicht ermutigt, mehr in der Sache zu unternehmen.« Sie zog eine Grimasse. »Ich wollte vermeiden, daß er Zeit dafür opfert, die er sonst mit mir verbracht hätte.«
»Glaubst du denn, Vics Tod steht mit dem Fall Lydia Brooke irgendwie in Verbindung?« fragte Hazel.
Gemma zuckte die Achseln. »Schon möglich.« Sie fröstelte. Es war mittlerweile dunkel und kalt geworden. »Aber Lydia ist eine Komponente von vielen. Ich wünschte, ich hätte mir Vics Unterlagen angesehen.«
»Hast du mir nicht erzählt, daß Lydia eine fanatische Verehrerin von Rupert Brooke war?«
»Ja. Leider weiß ich nicht viel über ihn. Außer ein paar Schulweisheiten über den >begnadeten jungen Poeten< aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. >Sollt ich einst sterben, so nimm dies von mir .. .< Wir mußten es in der Schule auswendig lernen. Ich fand die Verse damals dämlich.« Gemma sah zu den Kindern hinüber, die jetzt am Rand der gepflasterten Terrasse standen und kicherten, weil sie offenbar etwas Verbotenes mit Hollys Puppen machten.
»Also wenn du dich für Rupert Brooke interessierst...«, begann Hazel. »Ich glaube, da habe ich was für dich. Oder willst du Duncan die Sache allein übernehmen lassen?«
»Nein«, entschied Gemma, die so weit noch gar nicht gedacht hatte. »Natürlich nicht.«
Nachdem die Kinder gebadet waren und Gemma mit Tim und Hazel eine Gemüselasagne gegessen hatte, machte Tim den Abwasch, und Hazel führte Gemma ins Wohnzimmer. Rechts und links vom Kamin bedeckten Büchervitrinen die Wände. Es dauerte nicht lange, bis Hazel gefunden hatte, wonach sie suchte.
Mit einem Stapel Bücher bewaffnet, setzten sich die beiden Frauen auf die Couch. »Ist eine Ewigkeit her, aber ich habe auch mal für Rupert Brooke geschwärmt. Rupert Chawner Brooke, 1887 als Sohn eines Rektors in Rugby geboren«, zitierte Hazel lächelnd aus dem Gedächtnis.
Sie reichte Gemma das erste Buch. »Ich habe nur eine Taschenbuchausgabe von Marshs Biographie, aber die zeitgenössische Einführung ist lesenswert. Außerdem enthält der Band sämtliche Gedichte.« Stirnrunzelnd fügte sie hinzu: »Aber die anderen Titel hat Lydia während ihrer Collegezeit nicht kennen können. Die Biographie von Hassall ist 1964 herausgekommen, die Briefe 1968. Und die Sammlung seiner Liebesbriefe an Noel Olivier ist erst vor ein paar Jahren erschienen. Vic allerdings dürfte mit allen vertraut gewesen sein. Da bin ich sicher.«
»Wer war Noel Olivier?« fragte Gemma. »Eine Verwandte von Laurence?«
»Die jüngste der vier Schwestern Olivier, glaube ich, und soweit ich mich erinnere, waren sie Cousinen von Laurence«, klärte Hazel sie auf. »Als Rupert sie kennengelernt hat, war sie fünfzehn und er zwanzig. Er war ihr viele Jahre lang verfallen. Später blieben sie Freunde und haben sich regelmäßig geschrieben - bis zu seinem Tod.«
Während Gemma ein Buch nach dem anderen entgegennahm, wurde ihr ganz schwindelig. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sie betrachtete das Foto von Brooke auf dem Cover der Biographie. »Er sah ziemlich gut aus, findest du nicht? Ich habe mich schon gewundert, warum alle so auf ihn fliegen.«
»Ja, er war ein ausgesprochen schöner Mann«, gab Hazel zu. »Aber das allein kann es kaum gewesen sein. Er war ein ungewöhnlich begabter Literat.«
»Ist er nicht im Krieg gefallen?«
»Eigentlich ist er während des Krieges 1915 auf der griechischen Insel Scyros an Blutvergiftung gestorben. Ein Schlachtfeld hat er nie gesehen«, erklärte Hazel. »Aber Churchill und den anderen Kabinettsmitgliedern kam sein Tod im Krieg sehr gelegen - immerhin hatte er in seinen Sonetten den Krieg verherrlicht. Ob er das immer noch getan hätte, wenn er je in das Kampfgeschehen hätte eingreifen müssen? Das habe ich mich oft gefragt.«
»Dann war Brooke also ein bedeutender Dichter?« wollte Gemma wissen.
»Offenbar. Und wer weiß, was noch aus ihm geworden wäre. Virginia Woolf allerdings hat in ihm eher einen kommenden Politiker gesehen.«
»Er hat Virginia Woolf gekannt?«
»Brooke kannte wohl jeden, der in der
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