Decker & Lazarus 05 - Du sollst nicht luegen
gebannt in die Mitte des Raumes.
Wie ein achtlos hingeworfenes Stück Kleidung lag sie dort auf dem Boden, mit verbundenen Augen und halb nackt. Ihre Haut war voller blauer Flecken und eiskalt. Rasch kniete er sich neben sie und kontrollierte Puls und Atmung. Obwohl sie flach atmete, war ihr Herzschlag zu spüren. Decker suchte ihren Körper nach Blutungen ab – jedenfalls äußerlich war nichts zu entdecken. Obwohl der Fußboden hart und kalt war, wagte Decker nicht, sie aufzuheben, sie könnte ja eine Rückenverletzung haben. Er forderte das Hausmädchen auf, ihm eine Decke zu bringen. Dann nahm er vorsichtig die Augenbinde ab und erstarrte, als er sah, wen er da vor sich hatte.
Davida Eversongs Tochter – die Besitzerin von VALCAN. Er hatte ihr Foto Dutzende Male in den lokalen Käseblättern gesehen. Geschichten, so mitten aus dem Leben gegriffen: die Beauty-Farm bittet am Wochenende zur Rettet-die-Wale-Gala oder ein ganz besonderer Aufenthalt zum doppelten Preis zur Unterstützung der Obdachlosen. Ihr betörendes Gesicht schmückte jede Woche die Titelseite des Deep Canyon Bellringer, Arm in Arm mit immer einem anderen Star.
Wie zum Teufel war noch mal ihr Name? Alle sprachen immer nur von Davidas Tochter. Selbst die Lokalzeitungen schrieben über sie immer nur als Sowieso, die Tochter von Davida Eversong. Sie hatte irgendeinen exotischen Vornamen. Lara? Nein, nicht Lara, Lilah … Das war’s. Lilah. Lilah irgendwas mit B. Sie wohnte also neben ihrer Kurklinik. Das war plausibel.
Selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand konnte er erkennen, daß sie schön war. Ihre Augenlider waren verquollen, die Unterlippe aufgeplatzt und geschwollen. Ihr Hals war voller roter Druckstellen, doch es waren keine Spuren von einer Schnur oder ähnlichem zu sehen. Auf ihrem Oberkörper waren Striemen, als ob man sie ausgepeitscht hätte.
Decker nahm seinen Spiralblock heraus und fing an, die erkennbaren Verletzungen zu notieren. Wenn sie noch längere Zeit bewußtlos blieb und nicht ihre Zustimmung geben konnte, fotografiert zu werden, würden seine Aufzeichnungen ein wichtiges Beweismittel sein.
Die arme Frau. Ihr Nachthemd war bis zum Becken hochgezogen. Offenbar hatte es ein sexuelles Delikt gegeben. Decker nahm den moschusartigen Geruch von Sperma im Zimmer wahr. Sobald er seine Notizen beendet hatte, zog er ihr das Nachthemd nach unten und deckte sie mit der Decke zu, die das Dienstmädchen gebracht hatte. Er strich ihr einige feine, blonde Haarsträhnen aus der feuchten Stirn und berührte in der Hoffnung, daß seine Hände ihr Gesicht ein wenig wärmen würden, vorsichtig ihre Wangen. Ein sanfter Atem blies über seine Hände.
Er flüsterte: »Lilah«, erhielt aber keine Antwort. Ganz allmählich schienen ihre Wangen ein bißchen Farbe zu bekommen. Decker wies das Hausmädchen an, nichts anzufassen, und bat sie, draußen zu warten und den Sanitätern den Weg zu zeigen.
Brecht! Das war ihr Name. Lilah Brecht. Ihr Vater war ein deutscher Regisseur gewesen, der künstlerisch ambitionierte Filme gedreht hatte. Sein Name tauchte häufig in Zeitschriften- oder Zeitungsartikeln auf, in denen es um ausländische Filme ging. Mit einer Schauspielerin als Mutter und einem Regisseur als Vater war es eigentlich erstaunlich, daß sie nicht ebenfalls in dieses Metier eingestiegen war, schoß es Decker durch den Kopf.
Sein Blick wandte sich wieder Lilahs Gesicht zu. Zumindest schienen die Verletzungen nur oberflächlich zu sein, die Knochen im Gesicht waren offenbar nicht gebrochen. Das war ein Glück, weil sie sehr feine Züge hatte, die durch einen genau plazierten Schlag leicht hätten entstellt werden können. Sie hatte ein ovales Gesicht, eine schmale gerade Nase und hohe Wangenknochen, die in einem kantigen Kiefer endeten, der sich zu einem sanft gewölbten Kinn verjüngte. Decker stellte sich vor, daß sie tief liegende, mandelförmige Augen haben mußte.
Er hörte, wie sich Schritte näherten, drehte sich um und sah die Sanitäter ins Zimmer treten. Es waren zwei – ein Mann und eine Frau. Beide trugen kurzärmelige blaue Arztkittel. Decker wollte aufstehen, doch irgendwas hielt ihn fest. Eine Hand. Ihre Hand! Sie war aus dem Nichts hervorgeschossen und umklammerte mit erstaunlicher Kraft seinen Arm. Er verzog das Gesicht vor Schmerz, kniete sich wieder hin und versuchte, den Druck zu lindern. Sie hatte seinen linken Arm gepackt – den Arm, der sich immer noch nicht ganz von einer Schußverletzung erholt hatte. Als er
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