Decker & Lazarus 08 - Doch jeder toetet, was er liebt
antwortete nicht. Ich hakte nicht nach. Er zeichnete eine halbe Stunde lang schweigend. Schließlich legte er die Zeichenkohle hin und zog sein Hemd an. Dann nahm er die Decke vom Boden auf. Er legte sie mir um die Schultern.
»Sie ist an Brustkrebs gestorben. Sie war schon lange krank, aber sie hatte Angst, zum Arzt zu gehen. Sie fürchtete sich davor, ihre Brust zu verlieren und den Körper zu entstellen, den er so sehr liebte. Sie kümmerte sich nicht darum, bis es zu spät war. Vollkommen blöd. Später hat er mir gesagt, das Aufregendste an ihrem Oberkörper wären gar nicht ihre Brüste gewesen, sondern ihr Herzschlag.«
Er strich mit dem Finger an meinem Kinn entlang.
»Du hättest meine Mom gemocht. Sie war schön, aber richtig bodenständig. Genau wie du.«
»Deine Mom?« Ich sah ihn mit großen Augen an. »Dann ist dein Onkel Joey nicht wirklich dein …«
»Nein. Als mein Dad ermordet worden war, nahm meine Mom eine Stellung als Haushälterin bei Joey an. Er mochte sie vom ersten Augenblick an; sie wurden ein Liebespaar. Joey’s Frau – die Frau, die ich Tante nenne – war immer ganz Dame. Sie sah einfach … weg. Nachdem meine Mom gestorben war, haben sie mich adoptiert. Sie konnten nie eigene Kinder bekommen, deswegen schien das die beste Lösung.«
Er hörte auf zu sprechen, seine Augen schauten in die Ferne.
»Meine Tante hat ihre Rache an meiner Mutter bekommen. Sie hat mich vereinnahmt. Ich durfte nach ihrem Tod nie mehr von meiner Mom sprechen. Meine Tante hätte es nicht erlaubt. Ich war nicht mehr das Kind meiner Mutter. Ich war das Kind meiner Tante. Die einzigen Überbleibsel meines vorherigen Lebens sind ein paar Narben und mein Name.«
»Du musst wütend darüber sein.«
»Eher traurig. Ich wusste, was sie da tat, aber ich war ihr trotzdem dankbar. Sie und mein Onkel hätten mich auch rauswerfen können. Und das hätte fünf Jahre in Pflegefamilien bedeutet. Ich konnte nirgends hin, nachdem meine Mom tot war.«
Ich sagte: »Jetzt verstehe ich, warum du zugestimmt hast, Lorraine zu heiraten.«
Sein Lachen klang bitter. »Ich habe nicht zugestimmt, Terry. Ich habe einem Befehl gehorcht.«
Es wurde still im Raum.
»Nur einmal habe ich Joey nicht bedingungslos gehorcht, wegen der Schule«, fuhr Chris fort. »Er wollte, dass ich Lorenza heirate, sobald ich …«
»Lorenza?«
»Lorenza ist ihr richtiger Name. Er wollte, dass ich sie heirate, sobald ich achtzehn bin. Ich hab gesagt, dass es sinnvoller wäre, wenn ich erst mal die Schule hier drüben abschließe und dann in den Osten zurückgehe und sie heirate. Irgendwann hat er schließlich nachgegeben, aber er war nicht glücklich darüber. Er wird erst wieder glücklich sein, wenn ich fürs Leben gebunden bin und ein paar Söhne produziert habe … ganz gewöhnliche Enkelkinder.«
Er küsste meine Hand und legte sie an seine Wange.
»Können wir das nächsten Freitagabend wiederholen? Ihn zu unserem ganz besonderen Abend machen?«
Ich sagte ja.
»Danke.« Er küsste wieder meine Hand und ließ sie dann los. »Hör mir zu, Terry. Alles, was wir hier gesagt haben, ist absolute Privatsache. Wenn wir am Montag wieder in der Schule sind, ist alles wie vorher. Du hältst dich an deine Freunde, ich mich an meine. Verstehst du, warum?«
»Du willst nicht, dass dein Onkel von mir erfährt.«
»Ja. Außerdem habe ich früher ein paar Sachen angestellt – ein paar Verurteilungen wegen Drogen und einigen Einbrüchen. Was ich halt so gemacht habe, um mich meinem Onkel zu beweisen. Hab nur Prügel bezogen für meine Mühe, aber das war mir egal. Ich wollte, dass mein Onkel mich als harten Typ sieht.«
»Ich verstehe.«
»Joey hat einen Haufen Geld in mich investiert, Terry. Er hat die richtigen Leute bestochen. Jetzt habe ich ein blütenreines polizeiliches Führungszeugnis. Das war der eigentliche Grund, warum er mich überhaupt hierher geschickt hat. Ein neuer Anfang. Aber man kennt mich trotzdem noch als Joey Donattis Sohn. Wenn mein Onkel jemals untergeht, ersaufe ich mit ihm. Besser, die andern denken, dass du nur meine Nachhilfelehrerin bist. Es ist spät. Zieh dich an, dann bringe ich dich nach Hause und passe auf, dass du heil ankommst.«
»Das ist gar nicht nötig.«
»Doch, ist es«, flüsterte Chris. »Wenn du einen Schatz hast, beschützt du ihn auch mit deinem Leben.«
8
Und es war exakt wie vorher. Chris blieb bei seiner Gruppe und merkte scheinbar gar nicht, dass ich ihn sehnsuchtsvoll aus der Ferne betrachtete,
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