Decker & Lazarus 11 - Der wird Euch mit Feuer taufen
distanziertes Verhalten, sein ruhiges, aber verschlossenes Wesen. Und das alles direkt unter Deckers Augen, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die Scheuklappen abzunehmen. Er hatte gewusst, dass die Jungen Kontakt mit einem Sexualstraftäter gehabt hatten. Er hatte gewusst, dass Steve Gilbert, ein Perverser und Vergewaltiger, den Jungs Computerunterricht gegeben hatte. Er hatte es gewusst! Er hatte es verdammt noch mal gewusst und die Jungs trotzdem nie nach Gilbert gefragt.
Denn zu der Zeit war er viel, viel mehr an Rina interessiert als an ihren vaterlosen Söhnen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt ihr. Selbst wenn er sich um ihre beiden Söhne kümmerte, wollte er damit nur bei ihr Punkte sammeln. Rina stand immer im Vordergrund, die offensichtlichen Hinweise auf die Qual eines siebenjährigen Jungen hatte er übersehen. Selbst nachdem er gestern Jacobs Sexualverhalten mitbekommen hatte – sehr frühreif für einen Jungen, der in einem orthodoxen Zuhause groß geworden ist –, hatte er immer noch nicht zwei und zwei zusammengezählt. Sogar seine Ausdrucksweise:
Ich kann nicht reden, wenn ich weiß, dass da draußen irgendein Kid vergewaltigt wird.
Ein Kid. Nicht ein Mädchen! Ein Kid!
Jeder Polizeianfänger hätte es besser gemacht.
Wenn Decker nur ein Jota an Einsicht besessen, nur einen Hauch von dem Einfühlungsvermögen gezeigt hätte, das er für zahllose fremde Kinder besaß, dann hätte er seinem eigenen Sohn, seinen beiden Söhnen, acht Jahre Kummer und Elend ersparen können.
Kein Loch war tief genug für Deckers Schuld.
Jacob redete mit ihm.
Decker biss sich auf die Lippe. »Tut mir Leid, ich hab nicht zugehört, Jacob.«
»Ich hab dich gefragt, ob du wütend auf mich bist.«
Decker war sprachlos. Schließlich brachte er hervor: »Ob ich wütend auf dich bin?«
»Weil ich es dir nicht erzählt habe.«
Decker blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Das war das Letzte, was er wollte – Mitgefühl von den Jungs. »Nein, natürlich bin ich nicht wütend auf dich. Wieso …« Er räusperte sich. »Ich bin wütend auf mich selbst. Ich hätte …«
Er ging zu Jacob und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Sofort lehnte sich der Junge an seine Brust. Decker umarmte ihn und drückte ihn fest an sich, als könne er damit alles wieder gutmachen. Aber das war unmöglich. Acht Jahre voller Geheimnisse und Scham. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich.
»Ich hab dich so im Stich gelassen …« Decker sah zu Sammy, der immer noch mit angezogenen Knien unter dem Baum saß. Unnatürlich schweigsam. »Euch beide«, sagte Decker. »Ich wünschte, ich hätte …«
»Du konntest es doch nicht wissen«, unterbrach Sammy.
Aber er hätte es wissen können. Er hätte es wissen müssen.
Jacob seufzte in Deckers Armen. »Hätte schlimmer sein können. Wenigstens hatten wir uns, Sammy und ich.«
Leise sagte Sammy: »Manchmal denke ich an Gilbert … wie er im Gefängnis verrottet. Er war ein ziemlich gut aussehender Typ. Und ich stell mir vor, dass er da drinnen vergewaltigt wird, von einem nach dem anderen … oft.« Er umklammerte seine Knie. »Dann geht’s mir besser.«
Jacob löste sich aus Deckers Umarmung. »Du darfst Ima nichts erzählen.«
»Das hab ich auch nicht vor.«
Jacob wirkte ruhiger. Aber er war immer noch sehr bleich. »Ich will nach wie vor bei der Selbstmord-Hotline mitmachen. Hilfst du mir?«
»Sag mir, wann du anfangen willst.«
»Dieses Wochenende.«
»Abgemacht.«
Ein hohes Stimmchen schrie: »Dadiiiiiie!«
Rina rief: »Peter? Jungs?«
»Ja, wir sind hier«, rief Decker zurück. »Ein bisschen frische Luft schnappen.«
»Ich muss mich erst mal einkriegen.« Jacob ging weg.
Wortlos stand Sammy auf und folgte ihm. Einen Augenblick später legte er seinem Bruder den Arm um die Schultern. Jacob behielt die Hände in den Taschen, schüttelte den Arm aber nicht ab. Decker sah ihnen nach, wie sie in der Dunkelheit verschwanden.
Die Jungs waren so verdammt unterschiedlich. Und doch hatte Decker nur selten erlebt, dass sie sich angifteten, von einem Streit ganz zu schweigen. Er hatte sich oft gefragt, warum sie so gut miteinander auskamen. Jetzt wusste er es. Zwischen ihnen bestand eine Verbindung aus Kummer, Einsamkeit und heimlichen Tabus.
»Dadiiiiie!«, krähte Hannah. »Komm her.«
»Marge ist am Telefon, Peter. Sie sagt, es sei dringend«, rief Rina.
Decker schloss die Augen. »Ich komme.«
»Dadiiiie!« Hannah rannte auf ihn zu … so viel überschäumende Freude
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