Decker & Lazarus 11 - Der wird Euch mit Feuer taufen
ansehen. Decker spürte, wie sein Kopf leer wurde. Er sah zu Sammy, hoffte, von ihm irgendwelche geheimen Informationen zu bekommen, aber der Junge zuckte die Schultern, wusste nichts. Blind vor Wut, bemühte sich Decker, Ruhe zu bewahren. Doch es fiel ihm immer schwerer. »Was hat dieses Schwein mit dir gemacht, Jacob?«
Keine Antwort.
Sammy meinte: »Vielleicht sollte ich einen Spaziergang machen.«
»Nein, nein …« Jacob rieb sich die Augen. »Es ist nur … du kannst …« Er seufzte, wie nur jemand seufzen kann, der schon in sehr jungen Jahren die ganze Bürde des Lebens zu spüren bekommen hat. »Da war … dieses eine Mal.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sah zu seinem Bruder. »Du warst krank.«
Sammy sog scharf die Luft ein. »Was ist passiert?«
»Er hat mich abgefangen … mich festgehalten … am Arm gepackt … damit ich nicht mit den großen Jungs weg konnte.« Seine Unterlippe zitterte. »Er hat mich gekniffen … ganz fest. Hat meine Eier zusammengequetscht. Es tat höllisch weh.«
Decker wartete auf mehr.
»Das war’s.« Jacob presste die Lippen zusammen.
»Über der Hose?«, fragte Decker.
Jacob schüttelte den Kopf. »Nein … er hat … Ich war damals furchtbar dünn. Meine Hose rutschte dauernd runter, wenn ich gerannt bin.« Er atmete schwer. »Ima hat mir immer Jeans mit Gummiband in der Taille gekauft … das einzige, was hielt … er hat seine Hand …« Jacob wischte sich über die Augen. »Ist dir aufgefallen, dass ich immer einen Gürtel trage? Und den ganz eng schnalle?«
Keiner sagte etwas.
»Ich hab versucht, wegzulaufen«, fuhr Jacob fort. »Er hat nur … gelacht. Er sagte: ›Was ist los, Yonkele? Hast du Angst, es könnte dir gefallen?«‹
»Arschloch«, knurrte Sammy.
»Schließlich konnte ich mich losmachen. Ich sagte, ich würde es Ima sagen. Und weißt du, was er gesagt hat? Gott, was war das für ein Scheißkerl. Entschuldige meine Ausdrucksweise …«
Er sah zum Himmel, auf seine Schuhe, überall hin, nur nicht in ihre Gesichter.
»Er sagte: ›Wenn du’s deiner Ima erzählst, dann wird sie sterben, genau wie dein Abba gestorben ist.«‹
Jacob kämpfte gegen die Tränen; er war kreidebleich.
»Da wusste ich, dass er mich reinlegen wollte. Mit sieben wusste ich, dass Menschen nicht einfach so sterben.«
Wieder schniefte er.
»Aber gleichzeitig passierten all diese merkwürdigen Sachen … und Ima war schon völlig aufgelöst. Dann wurde die Frau vom Wachdienst ermordet. Und niemand hat uns was erklärt. Ich meine, ich hatte schreckliche Angst.« Er sah zu Sammy. »Du hattest auch Angst, oder?«
»Entsetzliche Angst.«
»Ich wusste, ich hätte Ima was sagen sollen, aber …« Er wischte sich über die Augen. »Aber dann hab ich doch nichts gesagt, weil er es nie wieder getan hat. Und dann brauchten wir nicht mehr hinzugehen, wie Sammy schon sagte.«
Der Junge lehnte sich an den Baumstamm, schlang die Arme darum.
»Ich hab ein Jahr gebraucht, bis ich geglaubt habe, dass Ima nicht sterben würde. Dann sagte sie, dass wir nach New York ziehen.« Er sah seinen Stiefvater an. »Ich mochte dich wirklich. Ich wollte nicht von dir weg. Du hast uns viel von dem Schmerz über Abbas Tod genommen. Aber da gab es auch diese andere Seite … Ich war so erleichtert, von da wegzukommen! Mit der Jeschiwa sind so viele verschiedene Erinnerungen verknüpft – Abba, als es ihm gut ging, und Abba, als er krank war. Du und Ima … und natürlich Rabbi Schulman … den liebe ich sehr. Aber da war auch er! Meistens denke ich nicht mehr daran. Dann steht mir plötzlich wieder dieses Bild vor Augen … es macht mir Angst. Ich komm mir vor wie ein Baby … verstehst du, warum hört das nicht auf?«
Ein Seufzer und ein Schulterzucken. Dann nichts mehr.
Decker wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Zur Zeit des Mordes und der Vergewaltigungen hatte er im Dezernat für Sexualverbrechen und Jugendkriminalität gearbeitet, galt als hervorragender Polizist mit jahrelanger Erfahrung. Er hatte mit zahllosen Kindern gesprochen, die missbraucht worden waren – emotional, körperlich, sexuell. Eines der wichtigsten Anzeichen dafür, dass bei Kindern etwas nicht stimmt, sind Schlafstörungen.
Jacobs Albträume.
Decker hatte sie selbst miterlebt. Doch er hatte sie als Angstzustände wegen des Todes seines Vaters abgetan, obwohl Yitzhak bereits zwei Jahre zuvor gestorben war.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Jacobs freundliches, aber
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