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Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)

Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)

Titel: Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renegald Gruwe
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verbergen.«
    Mit einem Mal standen Gustave die Bilder der Kindheit und Jugend vor seinem inneren Auge. Im Grenzland zwischen Belgien und Deutschland, in der Ortschaft Eupen, wohnten sie keine fünf Minuten mit dem Fahrrad voneinander entfernt. Und doch mussten sie Welten überwinden, um sich zu sehen. Gustave war das Kind eines einfachen belgischen Textilarbeiters und einer Näherin, die am Rand der Stadt in einem bescheidenen Haus wohnten. Für ihn und seine vier Geschwister gab es kaum genug zu essen. Eduard dagegen war der Sohn des deutschen Unternehmers Hermann Defries, dem eine Fabrik in Eupen und eine zweite, größere, einige Kilometer weiter in Aachen gehörte.
    Das erste Mal trafen sich die beiden Jungen im Sommer 1911, in einer für Gustave sehr gefährlichen Situation. Eduard war mit seinen Dreizehn zwei Jahre älter als Gustave. Der Knabe war beim Spielen am Fluss von der Böschung abgerutscht und in das Wasser gestürzt. Da Gustave noch nicht schwimmen konnte, zappelte und schrie er aus Leibeskräften. Eduard, der mit einigen Schulfreunden vorüberkam, erkannte sofort die Gefahr und sprang, ohne nachzudenken, dem Jungen zur Hilfe. Was nicht bei all seinen Freunden auf Verständnis stieß, da der Gerettete nicht ihrer Gesellschaftsschicht angehörte.
    Völlig durchnässt nahm Eduard den Kleineren mit nach Hause in sein Elternhaus. Dort erhielt er trockene Kleidung und etwas zu essen.
    Jetzt, beinahe vierundzwanzig Jahre später, war Gustave das Heim Eduards mit den großen Räumen, den vielen Büchern und den Gemälden immer noch in lebhafter Erinnerung. Besonders ein Bild des niederländischen Malers Cornelis van Dongen, das sich im Besitz der Familie Defries befand, erregte die Aufmerksamkeit des elfjährigen Gustave. Es hing im Arbeitszimmer des Vaters seines Lebensretters über einem Kamin, und davor stand ein kleines Ledersofa.
    Von der Diele aus konnte der Junge durch die halb geöffnete Tür einen Blick auf das Kunstwerk erhaschen. Der Akt einer dunkelhaarigen Frau auf einer rotbraunen Decke liegend, den Kopf auf dem linken Arm ruhend und dieser wiederum versunken in einem Kissen aus lila Samt. Der rechte Arm blieb verborgen, und nur der Schulteransatz war dem Betrachter zugewandt. Ganz und gar nicht verborgen blieb dem Betrachter indes die üppige Figur der jungen Frau. Ihre Brüste waren groß und fest, und die Wölbung des Bauches und der Hüfte mündeten in einer geschwungenen Linie, die über die Schenkel hinunterglitt und grazil zu den Fesseln und Zehen überleitete. Mit geschlossen Augen und lächelndem, leicht geöffneten Mund, genoss sie sichtlich das Betrachtet-Werden, und die entspannte Haltung ließ auf eine vor wenigen Augenblicken erfolgte Befriedigung ihrer Lust schließen. Ein ungeheuerlicher Anblick für den Knaben. Dünner Nebel begann schließlich den Blick Gustaves auf das Gemälde zu trüben. Der Hausherr hatte sich unbemerkt eine Zigarre angezündet, und der Rauch füllte das Zimmer mit dem aromatischen Duft der kubanischen Tabakpflanze. Gustave musste husten, sodass Herr Defries auf den heimlichen Beobachter vor seiner Tür aufmerksam wurde. Er ließ den Jungen näher kommen. Nach einigen ebenso schüchternen wie aufgeregten Fragen über das Bild erklärte ihm der Textilfabrikbesitzer, die Bewunderung des Elfjährigen für die Malerei spürend, mit aller Ernsthaftigkeit das Kunstwerk. Der Knabe konnte die Augen nicht abwenden. Später, beim Abendessen der Familie Defries, als Gustave schon längst wieder bei seinen Eltern war, lobte der Hausherr in Anwesenheit Eduards die große Aufmerksamkeit und die schon früh vorhandene Sensibilität des Jungen für die Malerei und erlaubte seinem Sohn, wenn er seinen neuen Freund wieder einmal mitbrachte, ihm die Bücher über Malerei und die Kunst des Zeichnens aus der Bibliothek des Vaters zugänglich zu machen. Selbstverständlich nur bei Interesse seitens des Schülers.
    Dieses war bei Gustave Garoche mehr als geweckt. Sogleich fing er an, zu zeichnen, und bemalte alles, was brauchbar erschien, mit seinen Figuren und Abbildungen. Von Kreidebildern auf Gehwegen und Häuserwänden kam der Junge durch die nicht allzu lange Haltbarkeit seiner Kunstwerke schnell wieder ab und wandte sich stattdessen dem reinen Zeichnen auf Papier mit Bleistift zu. Später wechselte er zu Zeichenkohle und Zeichenblock, ein Geschenk von Herrn Defries. Ansonsten ein ziemlich miserabler Schüler las und verschlang er in seiner Freizeit die einschlägigen

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