Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
nicht. Aber wenn einmal ein Herr oder eine Dame übernachtete, wurde deshalb nicht gleich die Sittenpolizei gerufen. Aber Fräulein Raedelsberg, nein …« Barbara Leville schüttelte den Kopf über die Moralvorstellungen ihrer neuen Vermieterin. »Leider war mein altes Zimmer schon wieder vermietet. Man hatte, wie ich ja auch, nicht mit meiner baldigen Rückkehr gerechnet«, und wie aus einer plötzlichen Erinnerung fügte sie an: »Ich wollte mich noch entschuldigen, dass ich unsere erste Verabredung nicht einhalten konnte, aber ein unerwarteter Auftrag … Sie verstehen?« Barbara Leville schenkte Garoche einen entschuldigenden Augenaufschlag.
»Sie wissen gar nicht, was Sie meinem Freund Eduard damit für einen Gefallen getan haben. Er hat sich wie ein kleines Kind gefreut, als er von ihrem Telegramm erfuhr, das Sie mir geschickt hatten. Allerdings ist aus seiner geplanten Dampferfahrt auf dem Wannsee nichts geworden. Es regnete wie in einem Guss.«
Im Café des Kempinski Hotels waren die Uniformen und die Pfiffe endgültig vergessen. Die Käsesahnetorte und der Kaffee schmeckten Fräulein Leville sowie Garoche ausgezeichnet, sogar das Betrachten der anderen Gäste war den Preis wert.
»Besuchen Sie diese Örtlichkeit öfter?«, betrieb Garoche Konversation, obwohl er längst bemerkt hatte, dass die Bedienung und der Oberkellner das Fräulein beim Namen kannten. Auch einige Gäste nickten den neuen Besuchern freundlich zu, manche jedoch eher verhalten.
»Nicht mehr so häufig. Auch hier zog vor einiger Zeit der neue Geist ein. Aber es gibt auch ganz nette unter ihnen. Franz zum Beispiel, ein ganz frühes Parteimitglied, schon 1928 eingetreten.«
Sie nickte leicht mit dem Kopf und deutete auf einen Kellner, der damit beschäftigt war, einem Gast, der sich mit der Vanillesoße seines Apfelstrudels bekleckert hatte, die Hose zu säubern.
»Früher durfte er sein Bonbon«, als sie merkte, dass Garoche nicht folgen konnte, erklärte sie: »sein Parteiabzeichen nicht offen tragen. Bevor die Nazis an der Macht waren. Jetzt, wo sie an der Macht sind, ist es ihm wieder verboten. Jedenfalls bei der Arbeit im Restaurant, der Ausländer wegen. Ich kenne ihn von einem Fototermin bei der Yva in der Schlüterstraße. Das muss so vor zehn Jahren gewesen sein. Er ist leidenschaftlicher Fotograf. Aber nur privat. Warum der zu den Nazis gegangen ist? Weiß der Teufel. Und wenn man von ihm spricht …« Barbara Leville unterbrach sich und lächelte dem Kellner zu, der sich prompt dem Tisch der beiden näherte. »Franz! Was macht die Fotografie?«
»Fräulein Leville, angenehm, Sie wieder einmal bei uns zu begrüßen. Die Fotografie? Nun ja, keine Zeit. Ab und zu mache ich noch Aufnahmen in der Natur. Menschen sind heutzutage schwer abzulichten. Sie bleiben nie stehen und haben keine Zeit. Oder kein Interesse, ihr Konterfei auf einem Bild wiederzufinden«, fügte Franz süffisant an, »da man nie weiß, auf welcher Dienststelle es in welcher Akte verschwindet.« Der Kellner lachte verhalten über seine Anspielung und zog sich unter einer Verbeugung zurück in seine Hälfte des Restaurants, argwöhnisch von einem Mann im Frack, dem Oberkellner, beobachtet.
»Sie scheinen viele Bekannte und Freunde in der Stadt zu haben.«
»Sagen wir lieber: Bekannte. Zu Freundschaften hat es oft nicht gereicht. Es ist ein hartes Konkurrenzgeschäft, die Modebranche. Für diejenigen, die Mode kreieren und für diejenigen, die sie vorführen. Aber ich muss gestehen, ich habe ganz gut verdient in den letzten Jahren. Besonders bei der Yva, immerhin die führende Modefotografin. Wir kennen uns schon eine ganze Weile. Bei Ausstellungen in London und Paris hat sie sich beteiligt.« Ein leichter, heller Schein huschte über das Gesicht der Leville. »Auch von mir sind einige Fotografien dabei gewesen. Aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.«
Jetzt hatte sie Garoches Interesse, endlich den Grund ihrer Ausreise aus Deutschland zu erfahren, von Neuem geweckt. Doch bevor er seine Frage stellen konnte, wurden sie erneut unterbrochen.
Ein junger Mann, dem man seine erst sechzehn Jahre aufgrund seiner eleganten Erscheinung nicht ansah, hatte Fräulein Leville entdeckt, als er im Eingang des Cafés nach einem Bekannten Ausschau hielt.
»Barbara!«, rief er erfreut durch das Lokal und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Auch das Fräulein erhob sich, und sie begrüßten sich überschwänglich. Barbara Leville bat den jungen Mann einen Moment
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